Von der Pike auf

30 04 2013

„Meiner Frau zuliebe.“ Breschke sah erschöpft aus. „Tun Sie es für meine Frau. Sie ist wirklich mit den Nerven am Ende.“ Er tupfte sich mit einer fahrigen Bewegung den Schweiß ab. „Aber warum für sie“, fragte ich misstrauisch. „Ich dachte, Sie selbst leiden unter Schlaflosigkeit?“ Er stemmte die Hände in die Hüften. „Was glauben Sie, wenn ich nicht schlafen kann, kriegt meine Frau doch kein Auge zu!“

Der alte Herr war allerdings ein Bild des Jammers. Zwei Tage lang hatte er jetzt kein Auge geschlossen. Vermutlich spielte eine Portion kalten Bratens die tragende Rolle in diesem Fall, denn er hatte unvernünftigerweise einen nächtlichen Imbiss zu sich genommen, worauf er nicht mehr in den Schlaf fand. Die zweite Nacht bekam ihm nicht besser; aus Furcht, nicht einschlafen zu können, schlief er nicht ein. „Ich habe alles versucht“, jammerte er. „Warme Milch mit Honig, Schäfchenzählen, ich habe mir sogar eine Regierungserklärung mit Bundeskanzler Adenauer vorgestellt.“ Ich zuckte zusammen. „Nichts. Jetzt müssen wir etwas unternehmen.“ Und wieder zuckte ich zusammen, diesmal noch deutlicher. Wenn der pensionierte Finanzbeamte vom Wir sprach, hatte er sich meist zu einer Schnapsidee entschlossen, die ihm nicht aus dem Kopf zu schlagen war.

Horst Breschke holte eine bedenklich bunte Schachtel aus der Schublade. Seine Tochter hatte sie irgendwo besorgt, Italien, Indien, Internet, da der Preis günstiger war als irgendetwas, das nicht direkt etwas damit zu tun gehabt hatte. „Doktor Klengel konnte nichts damit anfangen.“ Das überraschte mich weniger, schließlich handelte es sich um einen untadeligen Arzt. „Er ist manchmal ein bisschen störrisch.“ Genau diese Sturheit hatte Breschke ein hübsches Sümmchen gekostet, als er bei einer Heilpraktikerin eine Ohrkerzentherapie samt original schamanischem Gesundmurmeln buchte und von seiner Krankenkasse nichts wieder bekam. Klengel weigerte sich standhaft, über Reiki, Zuckerkügelchen und Vokalatmung zu diskutieren. Mit Breschkes Schneidersortiment hätte er auch nicht viel anfangen können.

„Das sind echte Akupunkturnadeln“, empörte er sich. „Man sieht das an der Gebrauchsanweisung.“ Dem bunten Gewirr aus Nähnadeln mit Plastegriff lag ein durchaus interessantes Blättchen bei, leider verfasst in einer Sprache, die es nicht gibt, was den Autor allerdings kaum hinderte, sie äußerst kreativ anzuwenden. „Steckend die nadel Wo Läüfet die bahnen“, informierte das Brevier. „Dortig Totale energy explodieren Leiche daß alles Gut.“ „Sie wissen also, worauf Sie sich einlassen.“ Breschke schluckte trocken. „Sie müssen bloß den Spiegel halten, ich werde mir die Nadeln selbst setzen.“ „Breschke“, beschwor ich ihn, „jetzt nehmen Sie doch Vernunft an. Zum einen ist das nichts als Hokuspokus, und außerdem…“ „Und Sie wollen mir etwas über Akupunktur erzählen?“ Er rümpfte voller Empörung die Nase. „Haben Sie denn schon einmal eine Sitzung mitgemacht?“ Ich runzelte leicht ungehalten die Stirn. „Aus gutem Grund nicht. Um so erstaunlicher, dass ich jetzt Ihnen von der Pike auf behilflich sein soll.“

Eifrig studierte Herr Breschke den mit allerlei Kauderwelsch versehenen grobstofflichen Körper auf der Packungsrückseite. „Embarazo“, grübelte er, „das hört sich schon gefährlich an.“ „Keine Sorge“, beruhigte ich ihn. „Das wird Ihnen sicher nicht zustoßen.“ Breschke atmete auf. „Da bin ich ja beruhigt.“ Trotz allem beobachtete er die Zeichnung. Langsam wurde er sich klar, dass er sich bei vollem Bewusstsein ein gutes Dutzend Nadeln in den Leib stechen müsste. „Und wenn ich dabei eine Ader treffe?“ Hastig riss er sein Tuch aus der Hosentasche. „Hauptsache, Sie treffen keine Hohlräume.“ Panisch blickte er mich an. „Stellen Sie sich bloß mal vor, Sie würden hier in der Wohnstube implodieren.“

Gefasst stellte er sich vor den Spiegel, den ich ihm vors Gesicht hielt. Noch zögerte er, noch wollte sich der Alte die Nadel nicht ins Gesicht pieksen. „Ich mache Ihnen ein Angebot.“ Er zögerte. „Wir suchen uns aus dem Telefonbuch einen Chinesen, der Ihnen die Nadeln setzt, und ich begleite Sie.“ Empört ließ er ab von seinem Tun. „Das könnte Ihnen so passen – diese Chinesen wissen doch gar nicht, wie man damit umgeht! Die können ja nicht einmal die Packungsbeilage entziffern!“ Wütend brachte er sich in Positur. Noch drei Zentimeter, noch zwei. Noch einer. „Aber wenn die Nadel jetzt nicht genau sitzt?“ Seine Hand begann zu zittern. „Und Sie wissen, es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis, dass die Beschwerden nur wegen der Nadelstiche verschwinden?“ Das Zittern nahm bedenklich zu. „Vielleicht sollte ich eben kurz von meiner esoterischen Nachbarin Räucherkegelchen besorgen, die machen ein paar oberflächliche Brandwunden, aber dann ist Ihr Gesicht wieder gut durchblutet.“ Ihm fiel die Schachtel aus der Hand, vielmehr: die Nadeln flogen unkontrolliert durch die Gegend. „Ich kann das nicht“, wimmerte Breschke, „ich kann das wirklich nicht!“ „Gut“, beruhigte ich ihn, „dann probieren wir etwas anderes.“ Er ließ sich schlaff in den Sessel fallen.

„Wie ein Stein!“ Frau Breschke war sichtlich erleichtert. „Ich habe ein Pflaster darauf geklebt, dann hat er sich auf den Bauch gelegt, und dann ist er auch sofort eingeschlafen. Kein Wunder, nach zwei durchwachten Nächten. Aber ich muss leise sein, er schläft noch. Sobald er wieder wach ist, muss ich nämlich staubsaugen. Wegen der Nadeln.“