Wahrsager

8 05 2013

„Wie, Wahrsager? Ausgerechnet Sie?“ „Warum denn nicht?“ „Sie sind doch Sozialdemokrat.“ „Bin ich gar nicht.“ „Wieso?“ „Ich bin schließlich in der SPD.“ „Meinetwegen, aber deshalb sind Sie noch lange kein Wahrsager.“ „Doch. Wir sagen ab jetzt einfach die Wahrheit.“

„Entschuldigen Sie mal, das ist doch…“ „Richtig, das ist unsere Lebensversicherung.“ „… völliger Unfug, wollte ich sagen.“ „Nein, das ist der einzige Ausweg.“ „Sie können doch nicht einfach die Wahrheit sagen.“ „Wer hindert uns denn?“ „Nicht wer, sondern was. Die Wahl.“ „Warum die Wahl?“ „Weil man vor einer Wahl immer lügt. Das ist so, das gehört eben dazu.“ „Und deshalb wählt man die, die am besten lügen?“ „Nein, aber…“ „Also Sie wissen es auch nicht.“ „Da muss doch etwas dran sein, dass alle vor der Wahl immer diese haltlosen Versprechungen machen und dem Volk erzählen, dass es schon nicht so schlimm wird mit der Mehrwertsteuer.“ „Und deshalb machen wir das jetzt auch, was?“

„Jetzt wüsste ich aber schon mal gerne, warum Sie denn unbedingt den Wählern reinen Wein einschenken wollen. Das bringt Ihnen doch nur miese Umfragewerte ein.“ „Sie sind ja mal ein ganz kluges Köpfchen.“ „Und wenn Sie sich nicht vorsehen, dann hat die SPD überhaupt keine Chance mehr.“ „Donnerwetter.“ „Und dann war’s das mit dem Wahlsieg.“ „Was Sie nicht sagen.“ „Nehmen Sie mich überhaupt ernst?“ „Nehmen Sie mich denn ernst?“ „Warum denn nicht?“ „Weil Sie sich ganz schön naiv anstellen.“ „Aber Sie werden die Wahl wirklich verlieren, wenn…“ „Warum, denken Sie, haben wir Steinbrück zum Kandidaten gemacht?“

„Das muss ich jetzt aber echt erstmal verkraften. Sie meinen, Sie arbeiten dem politischen Gegner bewusst in die Hände?“ „Richtig.“ „Haben Sie denn überhaupt keine Moral mehr? Keinen Anstand?“ „Wir haben vor allem Überlebenswillen. Und ich sehe nicht ein, dass wir die Krise beseitigen, die die anderen uns eingebrockt haben.“ „Sie wollen die Wahl verlieren, damit Sie nichts ändern müssen?“ „Naja, genau genommen, weil wir auch nichts ändern können.“ „Aber dann werden die…“ „Vergessen Sie’s. Die können auch nichts. Die geben es nur nicht zu.“ „Das heißt, die wollen doch etwas ändern?“ „Nein.“ „Oder sie denken, dass sie etwas ändern können?“ „Quatsch.“ „Aber was ist denn dann der Unterschied?“ „Die werden erst nach der Wahl zugeben, dass sie sich das ganz anders vorgestellt haben. Oder wenn sie Glück haben, merken die Leute das von alleine. Oder aber auch gar nicht.“

„Sie haben Steinbrück als Kanzlerkandidaten genommen, damit er verliert.“ „Er macht seine Sache großartig.“ „Und er weiß von seinem Auftrag?“ „Keine Ahnung. Ich habe keinen Überblick, ob der Mann wirklich so naiv ist, wie er sich überlegen gibt.“ „Ist das nicht unehrlich?“ „Mag sein.“

„Das mit den Steuererhöhungen…“ „Ja, ich weiß. Das war dumm.“ „Aber Sie haben doch gesagt, Sie wollen gar nicht regieren?“ „Eben.“ „Aber wenn Sie das mit den Grünen abgesprochen haben?“ „Eben nicht, das ist es doch.“ „Dann freuen Sie sich doch. So eine Vorlage, das ist doch wundervoll.“ „Wofür?“ „Naja, es zeigt doch, dass Sie sich mit Ihrem potenziellen Koalitionspartner wirklich bestens…“ „Ach papperlapapp! Das ist doch die Katastrophe!“ „Aber…“ „Erst setzen die mit den Steuererhöhungen einen Wirkungstreffer, und dann bekennen sie sich auch noch derart demonstrativ zur SPD als Koalitionspartner!“ „Ja, aber das…“ „Das ist ein Desaster!“ „… ist doch gar nicht so schlimm?“ „Nicht schlimm!? Das ist die Definition von Weltuntergang! Was meinen Sie, wie die Wähler darauf reagiert haben?“ „Außer sich?“ „Schön wär’s. Die Grünen haben in den Umfragen sogar noch zugelegt.“ „Freuen Sie sich doch.“ „Mann, haben Sie noch alle Tassen im Schrank!? Freuen, weil wir möglicherweise doch regieren müssen, wenn diese verdammten Grünen Rot-Grün nicht verhindern?“ „Aber die bekennen sich doch wenigstens zu Rot-Grün.“ „Verdammt noch mal, das ist es doch gerade!“ „Wieso, was…“ „Wenn diese Idioten vielleicht wieder herumeiern würden, wenn sie irgendwann mal versehentlich sagen, dass sie sich als Juniorpartner der CDU auch nicht aus der Verantwortung stehlen würden, falls es gerade rechnerisch hinhaut und man der FDP damit einen Arschtritt verpassen könnte, meine Güte: das wäre wenigstens mal ein Knaller, aber so?“ „Sie wollen doch wohl nicht die Grünen dafür verantwortlich machen, wenn es mit dem Wahlsieg etwas wird?“ „Was denn sonst? Wenn die Wähler jetzt wie blöde für Steuererhöhungen stimmen und wir am Ende nicht anders können, als die Steuersenkungen der Regierung zu verteufeln, dann ist es doch Essig mit Opposition!“ „Ich dachte immer, Opposition sei Mist?“ „Stimmt ja auch, aber Regierung ist doch noch viel beschissener.“

„Und dann treten Sie 2017 wieder an.“ „Hoffen wir’s.“ „Und dann ist natürlich alles viel besser.“ „Jedenfalls ist Merkel dann endgültig weg vom Fenster.“ „Meinen Sie?“ „Und dann können wir endlich mal eine ganz neue Richtung für die Euro-Rettung einschlagen. Dann wird sich unsere jetzige kluge Zurückhaltung nämlich auszahlen.“ „Sie meinen Ihre sachzwanginduzierte Ehrlichkeit.“ „Eben. Denn nach allen Erkenntnissen wird dann die Krise keineswegs vorüber sein.“ „Also wissen Sie…“ „Was?“ „Dazu braucht man nun wirklich kein Wahrsager zu sein.“