Seltsame Geräusche durchschwebten die Luft. Wie ein heiserer Wolf die Ahnen anbetet, so schraubte sich der Singsang in die Höhe, schamanisch durch die Oktaven irrlichternd, ein Kehllaut aus dunkler Urzeit. Man hörte bereits vom Treppenabsatz aus, dass Sigune wieder etwas Neues entdeckt hatte.
Sie zupfte sich die Spitzen des wallenden Gewandes zurecht; wenn mich nicht alles täuschte, war die ehemalige Priesterinnenrobe vor dem Umnähen ein Karnevalskostüm gewesen, das aus einem Nachthemd entstanden war. „Das steht so im Buch“, bestätigte sie. „Der Saum des Talars soll den Boden gerade berühren, deshalb hatte ich mir gedacht, ich mache diesen Ritus vielleicht am besten im Sitzen.“ Das schien mir praktisch. Und ich war auch schon sehr gespannt, wie sie, die Wicca aus dem zweiten Obergeschoss, den als improvisierten Altar geschmückten Campingtisch auf einem Klapphocker rutschend umrunden würde.
Ein paar Utensilien kamen mir bekannt vor. Aus einem kurzen naturreligiösen Anflug stammten die beiden Masken, Ziegenbock und George W. Bush, die vermittelst Ostergras und Ofenruß zu polaren Prinzipien wurden. Irgendwo in der Melange hing ein mildes Marienfigürchen. „Das kann man doch nicht einfach so in die Wohnung stellen“, mopste sie sich. Offenbar handelte es sich um ein Geschenk ihrer Schwester. „Sie ist katholisch“, stöhnte sie, „und das Schlimmste ist, sie glaubt daran!“
Im Grunde ist Sigune eine lebenslustige, neugierige Person. Eine von denen, die an keltische Baumhoroskope und chinesische Tierkreiszeichen glauben, die nach Feng Shui eingerichtete Wohnung mit Ohrkerzen ausräuchern oder babylonische Liebesrituale nachtanzen, um den Paketboten zu bezirzen. Das Problem ist, dass sie alles gleichzeitig tut, ihre Topfpflanzen mit Informationswasser aus Vollmondabfüllung gießt und Krafttiere grillt. Man tut gut daran, dem mit Nachsicht zu begegnen, noch besser: man begegnet dem gar nicht.
„Jetzt müssten nur noch diese Energielinien aufgespannt werden.“ Sie hielt die Überreste einer Wäscheschnur in den Händen und blickte mich treuherzig an. Links und rechts an den Wänden befanden sich vom letzten Chi-Einnorden noch genug Löcher, falls sie nicht rechtwinklig zu den Wasseradern unter dem Hau gehörten. So genau ließ sich das nicht mehr rekonstruieren. „Auf jeden Fall müssen diese Ströme jetzt über uns fließen, damit wir nicht negativ beeinflusst werden.“ Mein Einwand, dass sie möglicherweise schon etwas am Kopf abgekriegt haben könnte, verhallte ungehört. „Das Dreifachgesetz sei Dein leitender Faden“, rezitierte sie. „Dreimal bringt’s Glück und dreimal den Schaden.“ Weihnachtsbaumschmuck – wenigstens sah es danach aus – und allerlei orientalischer Zierrat landete auf den Schnüren. „Und die heilige Kordel sei geknüpft“, verkündete Sigune mit bebender Stimme, „bis das weiße Messer…“ An dieser Stelle riss die Leine entzwei, wobei alles zu Boden fiel. Sie war untröstlich, verwies allerdings zugleich auf die Tatsache, dass jetzt alles dreifach auf sie zukäme. Ich muss die Gelegenheit zur Flucht verpasst haben.
„Ob man die Energielinien nicht auch am Boden markieren könnte?“ Mir schwante Unheil. „Vielleicht sollten wir diesen ganzen Krempel auf dem Teppich verstreuen.“ Allerdings wusste sie nicht, wie sie mitsamt Hocker und Campingaltar um die kleinen Häufchen herum ihre tägliche Prozession verrichten sollte. „Wir sollten die letzte Ausräucherung nach Feng Shui als Hinweis nehmen“, schlug ich vor. „Kippen wir den Kram in die westliche Geldecke, dann ist in der Mitte des Zimmers wieder genug Platz, und die Balkontür lässt sich auch wieder öffnen.“ Ich fand keine Gnade. „Hier muss doch irgendwo noch eine von diesen Adern laufen“, mutmaßte sie. „Also das Abwasserrohr. Wegen der negativen Schwingungen nämlich.“ Ich gab zu bedenken, dass gerade diese fortgespült würden. Aber was sagt man einer angehenden Hexe nicht alles.
„Von hier aus dreißig Grad“, entschied sie. Ich runzelte die Stirn. „Das hieße dann ja, dass der Pfad der Energie geradewegs in Richtung Erde führt.“ Sigune blieb unbeeindruckt. Warum auch nicht, dachte sie, und zeigte auf die nächste energetische Kreuzung. Zufälligerweise eine Wandsteckdose. Ich gab mich geschlagen. „Dann müssten wir hier – halt mal, das kann doch nicht stimmen?“ Skeptisch blickte ich an die Decke. Richtig, fast wäre mir die Erdbewegung entfallen. Kühn visierte ich einen Punkt in der Zimmerecke an. Mir doch egal, dass der Kleiderschrank im Weg stand. Wer wollte denn einen kosmischen Jahreskreis im Originalmaßstab in dieser Dreizimmerwohnung aufrichten?
„Und jetzt immer im Uhrzeigersinn“, befahl ich. Sigune bückte sich, robbte unter der Schnur durch und erhob sich keuchend wieder, einen Kelch aus angelaufenem Messing balancierend. „Vielleicht wäre das ein bisschen feierlicher, wenn der Pott dabei aufrecht getragen wird.“ Sie sah mich panisch an. „Nein wirklich“, bekräftigte ich. „Schließlich haben die Südseeinsulaner den Limbo auch als Opfertanz erfunden. Sie schrie auf. „Ich kann nicht“, wimmerte die Amateurmagierin, „ich komme nicht mehr hoch.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht lag sie auf dem Boden. Ich rief Doktor Klengel an. „Was soll ich ihm denn sagen?“ Offensichtlich hatte sie den Ernst der Lage noch nicht begriffen. „Schließlich handelt es sich um eine Schussverletzung. Berufskrankheit bei Hexen.“
Satzspiegel