Relativ komisch

9 07 2013

Der Mann mühte sich ab. Das Publikum hing, wenn auch nicht gerade an seinen Lippen. Der ganze Parteitag war ein einziges Trauerspiel. Siebels drückte auf den Pausenknopf. „Grauenhaft.“ Tief befriedigt sog er den Geruch des Automatenkaffees ein. Er nahm einen Schluck. „Wirklich absolut grauenhaft. Ich sage Ihnen, mit dieser Sendung räumen wir alle Comedy-Preise ab, die es gibt.“

Der große TV-Erfinder blätterte in seinem Skript. Zwei Assistenten schnitten die Ministerrede in kurze Schnipsel zurecht, klebten hier und da Lachkonserve darunter oder fügten Standbilder ein. „Der Spitzenkandidat“, näselte Siebels. „Was für eine lächerliche Type. Schrecklich. Wie für uns geschaffen. Ich könnte mir gar keine bessere Figur vorstellen.“ Es war verwirrend. Sonst wusste man bei dem renommierten Programmentwickler, woran man war, aber diesmal machte er es kompliziert. „Ist er nun lächerlich oder gut?“ Er blickte von seinem Klemmbrett auf. „Wo ist denn da der Unterschied? Wir machen hier eine relativ komische Sendung, ist das so schwierig?“ Ich war nachhaltig verstört, denn so hatte ich Siebels noch nie zuvor erlebt.

Im Raum saßen gut drei Dutzend Zuschauer, den Gesichtern nach südostasiatischer Herkunft. Sie knabberten Salzmandeln, tranken eisgekühlte Limonade und plauderten angeregt miteinander. Ich verstand kein Wort davon. „Das beruht auf Gegenseitigkeit“, informierte mich Siebels. „Unsere Gäste sprechen kein Wort Deutsch, das macht die Kommunikation mit ihnen zwar etwas schwierig, aber so können wir auch ausschließen, dass sich irgendwelche Missverständnisse einschleichen. Sie haben keinen blassen Schimmer vor dem, was dort gesagt wird, also stört es sie auch nicht. Und nun passen Sie gut auf.“ Das Ministerjüngelchen stak dort hinter seinem Rednerpult, aufgeblasen zu Überlebensgröße auf einem mächtigen Bildschirm, es ruderte mit den Armen in der Luft herum, lobte sich sowie die Partei und alles, was es in Zukunft noch zu tun gedenke, und macht dabei eine recht jämmerliche Figur. Die Leute schrien vor Lachen. Einer von ihnen, ein aufgeweckter junger Mann, äffte prustend die stereotypen Ruderbewegungen nach. Auch ein paar Fetzen der Rede hatte er aufgeschnappt – es ging um Steuersenkungen – und skandierte die Parolen, wie er sie gehört hatte, freilich in völliger Unkenntnis ihrer Bedeutung, da er, wie gesagt, des Deutschen nicht mächtig war. Siebels gluckste vor Vergnügen. „Wunderbar“, freute er sich, „ganz wunderbar! Genau das ist es, was das Publikum wirklich haben will. Sie erkennen intuitiv den Witz an der Sache.“ „Aber sie verstehen doch gar nicht, was er sagt.“ Er lächelte mich nachsichtig an. „Sie sind doch wohl in der Lage, ihm inhaltlich zu folgen. Sagen Sie mir, an welcher Stelle haben Sie seine Ausführungen als lustig empfunden?“ Ehe ich noch hätte antworten können, fuhr er fort. „Nichts ist hier auch nur ansatzweise lustig. Dieses Gehampel, wenn er die Bundesrepublik zum coolsten Land der Welt erklärt – meine Güte, der Mann wird es doch nie zur Drittklassigkeit schaffen. Keiner wird es jemals komisch finden. Niemand.“ „Aber sie lachen doch? Warum lachen denn diese Leute da?“ Er schlürfte von seinem Kaffee. „Wir haben ihnen gesagt, was sie sehen. Eine Parodie.“ „Eine Parodie?“ Ich war verwundert. „Wirklich, eine Parodie? Ach, jetzt verstehe ich das erst – genial! Wahrhaftig genial, Siebels!“ Er war sichtlich geschmeichelt. „Sie erzählen ihnen, dass es sich um Schauspieler…“ „Nein“, fuhr er dazwischen. „Es sind keine Schauspieler, das sind höchstens Darsteller. Der Qualitätsunterschied ist doch wohl nicht zu übersehen, oder?“ „Also gut, Darsteller. Es handelt sich um Darsteller von Ministern.“ Siebels nickte. „Eine vollkommen realitätsgetreue Darstellung.“ „Allerdings“, dachte ich laut weiter, „warum sind denn diese Leute nicht wenigstens ein kleines bisschen komisch, wenn man sie im Original sieht? Warum lachen die Zuschauer nicht, wenn die Bilder des Parteitages im Fernsehen laufen?“

Das Publikum hatte sich unterdessen etwas beruhigt, doch dann wechselte das Bild. Ein alter Mann, der sich augenscheinlich für den Präsidenten hielt, onkelte etwas vor sich hin. Die Zuschauer brüllten vor Vergnügen; der Junge in der ersten Reihe wand sich vor Lachen auf seinem Sitz. „Wie Sie sehen, ist es nur relativ komisch. Das Absolute, dieser Alte da mit dem salbungsvollen Geschwätz, das ist nicht witzig, weil Sie es im eigentlichen Bezugsrahmen wahrnehmen. Aber wechseln Sie ihn aus – er stellt einen Präsidenten dar, und er ist bekannt für die perfekte Präsidentenparodie – dann wird diese Sache, relativ gesehen, urkomisch.“ Die glucksenden Männer waren der beste Beweis. „Man könnte auf diese Art aus jedem noch so miserablen Politiker ein erstklassiges Comedy-Objekt machen, richtig?“ Siebels nickte. „Diese Regierung kann beruhigt den Löffel abgeben, aus dem Personal kriegen wir im Handumdrehen genug Material für ein ganzes Jahr politisches Kabarett. Und Sie dürften genau wissen, wen ich da im Auge habe.“

Mit überschäumender Heiterkeit verabschiedeten sich die Gäste. Wieder verstanden wir kein Wort, doch sie schüttelten dem Produzenten lange und heftig die Hände; manche hatten noch Tränen in den Augen. „Hervorragend.“ Siebels strahlte. Er nestelte in seiner Mappe und zog eine Zeitung hervor: das größte Revolverblatt der Republik, aus dem die Großbuchstaben ungezügelt herausplärrten. „Und damit“, grinste er, „machen wir in den Printmedien weiter.“