„Ich kann Ihnen da leider nicht helfen.“ Er legte den Bescheid zu den anderen Unterlagen zurück auf den Stapel. „Wir haben auch unsere Vorschriften, und Sie als Steuerzahler wollen doch, dass die Verwaltung so gut wie möglich funktioniert, oder?“ Ich räusperte mich. „Das hat mit der Sache überhaupt nichts zu tun. Mein Nachbar mit voller Absicht in meiner Hecke herumgeschnitten, und deshalb wollen Sie ein Bußgeld verhängen. So weit in Ordnung. Nur warum gegen mich?“ Der Beamte hörte überhaupt nicht zu. „Zahlen Sie“, gab er ungerührt zurück, „Sie machen es sonst nur noch schlimmer.“
Der Besuch beim Anwalt hatte ergeben, dass der Besuch so gut wie nichts ergab. Der Rechtsbeistand machte mir klar, dass es in diesem Fall nicht viel zu beanstanden gab. „Das Recht ist eine komplizierte Angelegenheit“, teilte die Informationsbroschüre für Angeklagte mir mit, „deshalb sollte man gar nicht erst versuchen, sich ihm in den Weg zu stellen. Das höchste Rechtsgut in einem Rechtsstaat ist eine angemessene Strafe.“ „Sie werden“, gab mir der Amtmann zu verstehen, „wegen eines Eigentumsdelikts zu einer Geldbuße verurteilt. Sie nehmen die Strafe an, weil das ja schließlich das Verfahren viel einfacher…“ „Halt“, fiel ich ihm ins Wort. „Das ist doch eine Farce! Weder handelt es sich hier um ein korrektes Verfahren noch können Sie mich wegen eines Verbrechens, und um ein solches handelt es sich hier, zu einer Buße verurteilen. Ich will auf der Stelle Ihren Vorgesetzten sprechen.“ Er seufzte. „Ich auch, aber der hat so gut wie nie Zeit. Wir können es doch auch nicht ändern. Das hier ist ein Bußgeldverfahren, selbstverständlich, aber wir haben nur noch räuberische Erpressung, Einbruchdiebstahl und – halt, warten Sie mal, ich habe aus dem letzten Quartal noch einen Mundraub, den könnte ich Ihnen anbieten.“ Mir schwoll die Stirnader. Schnell versuchte er mich zu beruhigen. „Ich kann Ihnen alles erklären! Es hängt mit unseren Sanktionsquoten zusammen.“
Das Schaubild zeigte eine genaue Aufstellung der verfügbaren Straftaten, Mord, Totschlag, mittelbare Falschbeurkundung. „Es sieht aus wie eine Kriminalstatistik“, befand ich. Er nickte. „Das ist auch fast korrekt, nur möchten sich die Innenminister, die Polizeigewerkschaft und das Bundeskriminalamt nicht mehr mit dieser dreckigen Propagandalüge namens Wirklichkeit abgeben – sie passen sie daher an das gewünschte Ergebnis an.“ „Statt umgekehrt?“ Wieder nickte er. „Statt umgekehrt. Wir haben nun eine vorab der äääh… der Wirklichkeit entsprechende Aufstellung an Strafen, die Sie wegen der proportional hier aufgelisteten Tatbestände bekommen.“ „Ich werde also nicht wegen Fischwilderei verurteilt?“ Er blickte angestrengt auf die Tabelle. „Wie Sie sehen, sind bereits alle Fälle für dieses Jahr verurteilt worden.“ Ich schlug mir mit der flachen Hand auf die Stirn. „Was für ein Unfug! Und das nennen Sie angemessene Strafe?“ „Seien Sie nicht ungerecht!“ Er runzelte deutlich sichtbar die Stirn. „Wir sind ja schon um eine stetige Verbesserung des Zustandes bemüht, und es zeigen sich erste Früchte. § 307, das Herbeiführen einer Explosion durch Kernenergie, ist nur noch in ganzen zehn Fällen vorgeschrieben, davon nur noch in acht Fällen mit zehn Jahren Freiheitsentzug.“ „Wer würde denn ernsthaft eine Atombombe zünden?“ Er zuckte mit den Schultern.
„Eins würde mich allerdings noch interessieren. Warum nennen Sie das Sanktionsquote?“ „Sie kennen es möglicherweise aus einem anderen Zusammenhang“, wich er mir aus, „aber damit hat es überhaupt nichts zu tun. Es geht hier ja nicht um Ersparnisse von Steuergeldern oder die Förderung von Leiharbeit und sinnlosem Bewerbungstraining, wir sind nur angehalten, eine gewisse Auslastung des Justizvollzugs zu gewährleisten.“ „Sie bauen da Modellautos?“ Er wand sich. „Wissen Sie, der Trend geht ja auch zur Privatisierung, also im Justizvollzug kann man ja auch leistungsorientiert – von mir haben Sie das nicht!“
Er knetete seine Hände. „Es ist ja auch nicht ohne Schwierigkeiten, vor allem in der praktischen Umsetzung. Jetzt mussten plötzlich fünf bis sieben Terroristen gefasst und verurteilt werden, weil es jemand dem Innenminister befohlen hat – Sie, das war schlimm! Brandenburg hat drei festgesetzt, Hessen fünf, Bayern fünf, und dann hat Berlin telegrafiert, sie hätten zwanzig verhaftet, aber alle haben sich beim Unterschreiben des Geständnisses mit der Dienstwaffe des Polizisten – ja, man hat’s nicht leicht, sage ich Ihnen.“ Ich schaute auf seine Papiere. „Und Sie sind bei diesen Sanktionsquoten ganz frei in Ihrer Entscheidung?“ Er rückte die Brille zurecht. „Teilweise. Wie es beispielsweise Amtsdelikte gibt, die man nur als Amtsträger begehen kann – Rechtsbeugung, Aussageerpressung – werden auch manche Straftatbestände stets auf bestimmte Art bestraft. Wenn Sie einen Papierkorb anzünden, könnte es sich um einen Streich handeln, möglicherweise um Belästigung der Allgemeinheit. Zünden Sie ein Auto an, sind Sie ein Linksextremist und werden entsprechend behandelt.“ Ich beugte mich ein wenig vor. „Meinen Sie nicht, wir sollten langsam mal eine vernünftige Lösung anstreben? Was halten Sie zum Beispiel von einem Freispruch?“ „Bedaure“, gab er zurück, „das ist ja immer als erstes weg. Haben wir schon seit Ende letzten Monats nicht mehr. Aber ich mache Ihnen einen besseren Vorschlag. Sie unterschreiben ein Geständnis wegen Steuerhinterziehung, und wir lassen es solange liegen, bis es verjährt ist. Na?“
Satzspiegel