Dolce far? Niente

30 07 2013

Die Männer in den weißen Anzügen fühlten sich unwohl. Dabei hatten sie alle Zeit der Welt, behagliche Korbstühle, frisches Obst und durchaus angenehmes Wetter. Die Sommersonne schien in den Hof, da gut ein Dutzend von ihnen unruhig hin und her über das Pflaster lief. Der Große blätterte fahrig in einem Buch herum, legte es wieder auf den Tisch und warf sich zurück in den Sessel. „Sie sind noch ganz am Anfang“, erläuterte Hummel. „Und es dauert erheblich viel länger, als ich es erwartet hatte. Sie können einfach nicht nichts tun.“

Das Barockschlösschen bot reichlich Platz für die Therapiegruppe. Der Salon war modern und behaglich eingerichtet, die Bibliothek im Westflügel gewährte einen Blick auf den üppigen Rosengarten. Dienstbare Geister schwirrten durch die Flure, so leise, als seien sie unsichtbar. Sandfarbene Läufer und honiggelbe Gardinen fingen das Licht ein, in den Fensternischen standen kunstvoll drapierte Sträuße aus frischen Wiesenblumen. „Völlig egal“, konstatierte der Leiter, „wir könnten Sandsäcke vor die Türen legen, keiner würde es bemerken. Sie sind alle so aufgedreht, dass sie keine Augen mehr für ihre Umwelt haben.“ Unten im Hof hatte sich nichts geändert. Ein Dicker mit kahlem Schädel strich die Wände entlang wie ein Raubtier im Käfig. „Warum geht er nicht einfach hinein, wenn er die Sonne nicht erträgt?“ Hummel zucke mit den Schultern. „Es ist keine Vorschrift, sich draußen aufzuhalten. Wir empfehlen es ihnen nur, weil heute so ein wundervolles Wetter ist. Aber keiner von ihnen muss dort bleiben.“ Er drehte ein bisschen am Fenstergriff; das Ding quietschte gemütlich vor sich hin. „Sie könnten jederzeit in den Rosengarten, wie Sie wissen. Oder sich aus der Schlossküche frisches Obst holen.“ Doch nichts dergleichen geschah.

Einer der Männer saß zusammengekauert in der Ecke. Ein anderer stand neben ihm und betrachtete ihn teilnahmslos. „Dies hier“, befand ich, „wäre doch der ideale Moment, ein zwischenmenschliches Gespräch zu beginnen.“ Hummel nickte. „Aber ja. Leider ist das bislang noch nicht vorgekommen. Sie sehen ja selbst, sie sind vollkommen selbstbezogen. Die anderen nehmen sie noch viel weniger wahr als Sandsäcke oder Blumenbuketts.“ Das Ensemble erweckte langsam den Eindruck einer Heilanstalt. „Das sagt man mir immer wieder“, antwortete mein Gastgeber mit einem milden Lächeln. „Wenn ich ihr Verhalten richtig deute, dann dürften sie sich auch so fühlen wie in der Klapsmühle. Aber Sie wissen ja, dies ist keine Korrekturanstalt.“ Ich sah versonnen auf die Gestalten in den weißen Sommeranzügen; sie waren hier, um sich mit nichts zu beschäftigen. Müßiggang, so lautete der Wahlspruch des Instituts, ist der Anfang aller Weisheit. Leider merkte man von dieser Weisheit noch herzlich wenig.

Hummel rührte umständlich ein Stück Zucker in seinen Tee. „Sie haben hier ein gesellschaftliches Problem ersten Ranges“, konstatierte er. „Wenn Sie heute von den Arbeitslosen sprechen, heult der Durchschnittsbürger sofort getroffen auf: Zu viel Freizeit! Die kriegen unser Geld fürs Nichtstun! Es ist eine der hässlichsten Eigenschaften, die man ihnen antrainiert hat: Neid. Der pure Neid auf eine Begleiterscheinung.“ Er schlürfte einen kleinen Schluck, denn der Tee war noch sehr heiß. „Und überflüssig dazu. Genauso kann man es den alten Römern neiden, dass sie fließend Latein sprachen.“

Die beiden Männer in der Ecke guckten einander flüchtig an, während der Kahlkopf inzwischen dazu übergegangen war, die Ziegel der Innenmauer zu zählen. Er suchte sich eine Beschäftigung. Doch so einfach war es nicht. „Er will unbedingt produktiv erscheinen“, stellte Hummel fest. „Es ist vollkommen sinnlos, aber er will sich nun mal nicht damit abfinden, dass er rein gar nichts zu tun braucht. Er ist hier aller Pflichten ledig, darf in den Tag leben – wir haben nicht einmal feste Frühstückszeiten, aber die Herren sitzen jeden Morgen um halb sieben in Reih und Glied, und wehe, sie müssen eine Minute warten – und alles tun, was ihm beliebt.“ „Es ist wohl“, fiel ich ein, „dass er es auch lassen darf, und gerade damit kommt er nicht zurecht.“ Hummel nickte. „Sie lassen nicht los. Es lässt sie nicht los.“ Ich schluckte. „Sie sollten froh sein, dass sie nicht reich sind. Sie könnten es nie genießen. Es würde sie viel zu sehr anstrengen.“

Ein anderer beschäftigte sich intensiv mit den Kieseln in dem Töpfchen mit dem Tulpenbaum; das Bestreben nach Beschäftigung schreckte in diesem Fall nicht vor blinder Zerstörung zurück. „Ein sehr unangenehmer Zeitgenosse“, verriet Hummel. „Er hat mich vor ein paar Tagen angeschnauzt, ich solle mein Haus seinetwegen ändern. Er fordert das Recht auf Arbeit.“ Ich hob erstaunt den Blick. „Und Sie haben ihm nicht nachgegeben? Ja, ich verstehe – sie sind ja alle freiwillig hier. Wobei ich das auch wieder nicht verstehe. Warum gehen sie nicht? Nur, weil sie dafür bezahlt haben?“ „Sie halten es für ihre Pflicht“, antwortete er lakonisch. „Aber sie sind im Grund genommen schon so weit, dass wir sie mit den Ergebnissen der Eingangsuntersuchung konfrontieren können.“ „Sie haben bei ihnen eine Untersuchung durchgeführt?“ Er schmunzelte. „Sie haben die Auffassung vertreten, der Mensch sei nun mal von Natur aus faul und müsse mit Gewalt zur Arbeit angetrieben werden, weil er sonst sittlich verrohe.“


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