Präsenspflicht

8 08 2013

Sie strich nicht in den Texten herum, sie redigierte. Ilse Förtner kringelte mit dem Rotstift ein Wort nach dem anderen an und verbesserte. Das also war das Institut für Gegenwartskunde.

Genau genommen war dies ein gemietetes Zimmerchen in der Volkshochschule, in dem die ehemalige Geschichtslehrerin – sie hatte ihren Beruf an den Nagel gehängt, und man berichtet, sie sei an ihrem letzten Tag mitten in eine rauschende Party hineingeraten, zu der sie keiner eingeladen hatte, ein komischer Zufall – die Kommunikation ihres Landesverbandes unter die Lupe nahm. „Die Auseinandersetzung mit den Themen unserer Gegenwart ist eine Gegenwärtige“, verkündete sie. „Wir werden uns auf die Dinge konzentrieren, die sind. Damit schaffen wir zugleich Sicherheit.“ Der Rotstift kritzelte unvermittelt weiter. Dabei fiel mir auf, dass sie sich nur mit den Verben aufhielt, genauer gesagt: mit den Zeitformen. „Sie streichen jede Vergangenheitsform als Fehler an?“ Energisch schüttelte sie den Kopf. „Jede Form, die nicht der Gegenwart entspricht. Etwas anderes hat in unserer Wirklichkeit keinen Platz mehr. Wir müssen die Menschen zu mehr Gegenwärtigkeit erziehen.“ Tatsächlich strich Fräulein Förtner, und auf die Anrede legte sie immer noch größten Wert, auch alles Zukünftige. Ich verdrehte die Augen.

„Alle wollen heute Aussagen über die Zukunft treffen“, beklagte die ehemalige Pädagogin. „Aber wozu denn? Können wir jetzt schon sagen, was morgen ist?“ „Sein wird“, rügte ich. „Was morgen sein wird.“ „Ist“, zischte sie dazwischen. „In diesem Land verändert sich nichts, weil sich auch nichts verändern muss. Dies ist die beste aller möglichen Welten, deshalb sorgen wir auch dafür, dass sie im Bewusstsein unserer Bürger genau so erhalten bleibt.“ „Durch das Präsens?“ Sie funkelte mich böse an. „Wie denn sonst?“

Ich sah ihr über die Schulter. Die deutsche Wirtschaft wächst in den kommenden vier Jahren stärker als erwartet. „Lassen Sie sich nicht stören“, begann ich, „aber woher wissen Sie, was ich erwartet hatte?“ „Was Sie erwarten“, fiel mir Förtner ins Wort. „Hier zählt die Gegenwart, nichts als das Gegenwärtige, verstehen Sie?“ „Durchaus“, antwortete ich, „nur: wenn das Gegenwärtige zählt, warum stellen Sie dann Mutmaßungen über die Zukunft an?“ „Das ist eine Aussage“, schrie sie. Ganz erschrocken über den plötzlichen Ausbruch strich sie unkonzentriert auf dem Papier herum. „Das ist eine Aussage, und Sie wissen, dass sie nicht zu widerlegen ist.“ „Sie ist sehr wohl zu widerlegen“, insistierte ich, „denn alle Erwartung ist ja erst erfüllt oder nicht erfüllt durch die Zukunft – oder habe ich das falsch verstanden?“ „Sie verstehen das falsch“, antwortete sie, bereits mit dem deutlichen Unterton der Erschöpfung.

Doch ich merkte, dass es gar nicht an diesem einen Sätzchen hing; mehr stand dahinter. Etwa ein allumfassender Determinismus, die Ergebung in ein göttliches Schicksal, das keiner weiteren Analyse mehr bedurfte? „Die Zukunft ist so, wie wir sie uns heute errechnen.“ Hektisch ordnete sie ihre Knöpfe; keiner war zu beanstanden gewesen. „Dann geht es Ihnen wohl nur darum, die Zeit anzuhalten?“ Sie biss sofort an. „Ihr Hass auf alles Konservative ist ja krankhaft!“ Vermutlich würde sie im nächsten Augenblick den Stift auswringen. „Es geht Ihnen also nicht nur um Besitzstandswahrung?“

Offenbar hatte Ilse Förtner hier schon das politische Vermächtnis eines halben Jahrhunderts in die Gegenwart gerettet. Die Papierstapel an der Rückseite des Schreibtisches sprachen Bände. „Es wird alles immer schlechter, aber wir verhindern es, indem wir die Gegenwart festhalten.“ „Es wird?“ Sie sah mich irritiert an. „Nein, Sie jagen mich nicht ins Bockshorn – Sie nicht! Das ist ein Vorgang, der im Gegenwärtigen stattfindet, ein Werden, und das ist immer im Jetzt. Sie werden…“ Sie verstummte. Offenbar hatte die Zukunft sie eingeholt.

„Wie können Sie eigentlich so sicher sein“, begann ich, „dass kein unvorhergesehenes Ereignis Ihre Zukunftsplanung zerstört?“ „Es gibt keine unvorhersehbaren Ereignisse“, zischte sie zurück. „Wenn man einen guten Kompass hat, ein klares Wertesystem, dann kann man jede Richtung…“ „Und Naturereignisse?“ Sie glotzte mich an. „Uns passiert kein Naturereignis“, stammelte sie, „das ist hier nicht möglich.“ „Weil sie sich noch nicht angekündigt haben?“ Sie brachte kein Wort heraus. „Ich vergaß, Erdbeben haben ja jetzt Präsenspflicht in Deutschland.“ „Es wird nichts schlechter“, biss sie sich mühsam heraus, sichtlich verzweifelter als zuvor, „es kann nicht schlechter werden.“ „Das könnte sogar stimmen“, antwortete ich, überrascht von meiner eigenen Härte. „Sehr viel schlechter kann das alles ja nicht mehr werden.“ „Sicherheit“, sprudelte sie hervor, „die Sicherheit, dass es so ist, wir sind uns völlig sicher, die Gegenwart ist…“ „Ja, die Gegenwart. Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hole ich der Königin ihr Kind. Dass daraus nichts wurde, sollte sich bis zu Ihnen herumgesprochen haben.“ „Ich verstehe etwas davon.“ Sie drehte den Stift in den Händen wie ein Messer. „Früher, also vor dem hier, bin ich Lehrerin gewesen.“ Sie stutzte. Und verlor die Nerven. „Bin ich! Ich bin!“ Sie fiel auf die Tischplatte. „Bin jetzt, dass ich die Gewesene, das bin ich jetzt! heute!“ Ich stand auf. „Nur im freien Fall ist die Richtung mit einiger Sicherheit vorauszusagen.“ Und ich schloss die Tür hinter mir.