Bombengewinn

4 12 2013

„Gundelore Prinzberg.“ Witschler tat ein wenig irritiert, obwohl er es nicht wirklich war. „Sie werden natürlich sagen, dass sie nur wegen ihres Namens ausgewählt wurde, aber Sie sehen ja selbst, dem ist nicht so.“ Und diese Rentnerin, ehemals Apothekenhilfe in einer niedersächsischen Kreisstadt und tapferes Mitglied eines schrumpfenden Kirchenchores, sollte es nun treffen. „Wir müssen es hinnehmen. Es sollte so sein.“

Andere Abteilungen hatten längst ihre Bestände auf elektronische Verarbeitung umgestellt, nur hier gab es noch Karteikarten. Mit dem Unterschied allerdings, dass die Kärtchen gefaltet waren und man von außen nie wissen konnte, wen man gerade zog. „Gundelore Prinzberg hat im vergangenen Jahr nicht an der Ziehung teilgenommen, da ihr Regierungsbezirk nicht gewählt wurde.“ Witschler übertrug ihre Daten gerade sorgfältig in eine Liste. „Und wir konnten natürlich vor der Ziehung nicht wissen, dass sie teilgenommen hat, beziehungsweise: ich weiß auch gar nicht, was mit ihr geschieht. Ich ziehe hier nur die Karte.“ Entschuldigend rieb sich Witschler die Hände. Vielleicht würde die Behörde ihr am Abend einen Brandsatz unter der Tür durchschieben. Oder sie würden sie beim Spaziergang mit dem Hund anfahren. Oder sie entführen. Das lag nicht in der Macht dieser Entscheidung.

Witschler schob den Kasten zurück in den Karteikartenschrank und markierte die Reihe mit einem kleinen roten Punkt, damit sie nicht versehentlich noch einmal durchsucht würde. „Es geht streng nach dem Gesetz zur flächendeckenden Verteilung verbrecherischer Anschläge. Jeder kann an der Reihe sein, jeden kann es treffen.“ Der Sinn, hatte ich aus der Broschüre erfahren, sollte die absolute Gerechtigkeit sein. Ein vereidigter Mitarbeiter würfelte jeweils die Reihen der Karteikästen aus – eine Halbtagskraft, das Würfeln war schnell erledigt, so dass wir bereits um halb neun ans Suchen gehen konnten im Aktensaal – und der Datensatz stand für eine zufällige Person. „Das alte System wurde außerdem als sehr anfällig betrachtet.“ Ich notierte mir diesen Punkt. „Die äußeren Umstände, ob es sich um einen Familienvater oder eine allein stehende junge Frau gehandelt hat, nahmen überproportional viel Raum ein in der Berichterstattung. Wir werden das ändern und die mediale Aufarbeitung wieder auf ein klares inhaltliches Ziel zurückführen.“

Die nächste Ziffer befand sich genau gegenüber. Auch hier: eine Kleinstadt, dem Namen nach ebenso im Norden liegen sollte, und schätzungsweise ein älterer Herr, den es treffen sollte. Vielleicht irrte ich mich. Aber da es sich schließlich um eine Bundesbehörde handelte, musste es mich nicht weiter stören. Ich würde nicht betroffen sein, ebenso wenig wie Millionen anderer Bürger, und sollte es je zu Klagen kommen, würde ich immer noch sagen können, ich hätte vom wahren Ausmaß dieser staatlichen Maßnahme nichts gewusst. Das beruhigte ebenso, wie es mich vorher geängstigt hatte.

„Das flächendeckende Auftreten terroristischer Akte ist nun einmal Staatsraison“, betonte Witschler. „Eine ganze sicherheits- und außen- und nicht zuletzt parteipolitische Grundlage dieser Regierung beruht auf dieser Basis. Es ist ein Staatsfundament, wenn Sie so wollen, und wir müssen es mit den Mitteln der Demokratie verteidigen, um als freie Welt unsere Unabhängigkeit zu sichern.“ „Sie meinen, unsere Unabhängigkeit als freie Welt?“ Er runzelte die Stirn. „Ihre Spitzfindigkeiten bringen uns auch nicht weiter“, sagte er mit einigem Sarkasmus, „und ehe Sie es versuchen: nein, wir verteidigen uns hier auch nicht gegen die Unabhängigkeit der freien Welt.“ Schuldbewusst blickte ich zu Boden. Er hatte mich ertappt. Offenbar ein Sicherheitsexperte, der sehr genau wusste, wie die Menschen dachten.

Das System beruhte auf einem Zufall, der sich aus mehrfach unabhängig voneinander handelnden Quellen speiste. So simulierte die Behörde eine gleiche Chance aller Bundesbürger, Ziel eines Anschlags zu werden. „Eine Terrorlotterie“, bestätigte Witschler, „verstehen Sie uns gerne wie ein Lottounternehmen, nur dass wir einen Bombengewinn ausschütten. Sie haben Pech gehabt, wenn wir Sie ziehen.“ „Aber ist das denn gerecht?“ Witschler lächelte milde. „Nein, natürlich nicht. Denn das ist schließlich das Wesen des Terrorismus: jeder Abschlag mag von äußeren Gegebenheiten bestimmt sein, von einer Stadt, einer Uhrzeit, zu der die meisten Opfer erwartbar sind, einer Schnellbahnlinie oder einer Hausnummer, von einem Wochentag, an dem es gerade Geld gegeben hat, an dem keiner Ferien hat, an dem viele Touristen in der Stadt unterwegs sind – aber keiner wird berechnen können, dass an diesem Vormittag Frau Gundelore Prinzberg im Schnellbus sitzt, weil sie zum Zahnarzt fährt. Sie ist mitten unter den anderen, und das ist die Ungerechtigkeit, die man auch als Zufall bezeichnet, der dann wieder eine Art höherer Gerechtigkeit ist. Bei einem Erdbeben würde keiner fragen. Dank unserer stochastisch sehr genauen Verteilung erübrigt sich dann die Frage, ob es sich um Gerechtigkeit handelt.“

Übrigens steckte Witschler danach die Karten sehr sorgfältig wieder zurück, auch dies aus wissenschaftlicher Genauigkeit. Schließlich wusste man vorher nie, ob eine ausgewählte Person einen Anschlag auch überleben würde, und um die Statistik nicht zu verfälschen, blieben die potenziellen Opfer auch in der nächsten Ziehung erhalten. „Nur eine Frage hätte ich noch“, wandte ich mich an ihn. „Sie sprachen von einer genauen Organisatin der Terroranschläge, von einer Staatsraison. Darf man fragen, wer – ?“ Witschler stutzte einen Augenblick, doch dann lächelte er wieder. „Sicher, sicher. Um eine gleichbleibende Qualität zu erhalten, unterhalten wir natürlich unsere Kontakte zu den führenden Organisationen. Außerdem sichert uns das Arbeitsplätze. Die deutsche Waffenindustrie will ja auch leben.“


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