Gernulf Olzheimer kommentiert (CCXXVII): Der Burnout-Mythos

31 01 2014
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Damals – und das ist schon eine Weile her, seitdem sind die Alpen voll ausgeklappt, Mallorca driftet nur noch langsam Richtung Westen, die Flugsaurier halten den Schnabel und die Evolution hat sich als Freizeitvergnügen etabliert – ging ja noch alles ganz langsam. Die Bewohner des kleinen Tals warten noch immer von Mond zu Mond, bis nach Regen und Wind und ein paar Tagen Sonne das Gras aufkeimt und Früchte trägt, die man zwischen Steinen zerreibt, mit etwas Brackwasser aufsuppt und gegen den knurrenden Magen einsetzt. Kommt Zeit, kommt Ratte, und wem das nicht passt, der muss halt weiter Pilze sammeln, Bienen kauen oder den Bären die Beeren klauen. Es führt kein Weg zurück, und dennoch waren die guten alten Zeiten nicht nur schlecht. Wir haben es gehabt. Jetzt müssen wir an den Burnout glauben.

Er adelt, er demonstriert nachhaltig, dass das Maschinenzeitalter vor allem eine Maschine kennt: uns. Pech gehabt, Keule, denn wie Schuss und Knall auseinanderliegen, so gibt sich heute keiner mehr zufrieden. Sofort reagieren, im Sprungwurf die Mails checken, zwischen Baum und Borke eine Revolution anzetteln und drei verhindern, dazu auf dem Laufsteg posieren, staubsaugen und sich die Haut an den Leitplanken abziehen, bevor man in den Graben klatscht. Wir machen es nicht mehr in normaler Geschwindigkeit, denn wer in dieser vollends hypochondrischen Zirkusveranstaltung zugibt, dass es bei ihm Brechreiz auslöst, könnte auch gleich sagen, es habe ihn am Kopf erwischt. Man stellt einfach die Produktivität ein, wenn man es sich leisten kann.

Denn die Mär ist ja, dass in den schnellen Zeiten, wo jeder seine Ellenbogen gegen gleichartig gelagerte Ausschussware einzusetzen hat, gerade die dekorative Depression als Dekorum der präpotenten Dünndüsen gilt. Die einfache Schlappe, ein Bandscheibenschaden oder die Allergie, die den Beruf unmöglich macht, gilt als Abzeichen von Schwäche, Untauglichkeit und mangelnder Eignung für den kapitalistischen Fleischwolf. Geschenkt, dass auch die Angst vor der sozialen Vernichtung in den psychischen Ruin treiben kann, kein anderes Druckmittel gibt der Managementkaste derart viel Macht in die schwitzigen Finger, während sie selbst zwischen den Adrenalinschüben hyperventilierend die Realität aus dem Blickfeld schieben. Der Witz ist doch, dass sie die wahren Verlierer sind, wie sie unter einer Art Legionärskrankheit leiden, die das Tretmühlenfutter des Neoliberalismus epidemisch überträgt: zum Krieg ausgebildete Waschlappen, die kein Blut sehen können, vor allem nicht ihr eigenes. Wann immer ihnen dämmert, dass sie der nächste Steinschlag endgültig aus der Wand hauen könnte, werden sie sich der Fallhöhe bewusst und pumpen ihr Selbstmitleid auf. Denn wer würde sie bejammern, Quotenwürstchen ohne Halbwertszeit und ökonomische Notwendigkeit, reine Parallelexistenzen in der Umlaufbahn einer von ihnen ignorant gewordenen Gesellschaft.

Es ist nicht die seelische Zentrifugalkraft, die eine zunehmende Blutleere in der Birne der überflüssigen Ichlinge erzeugt; es ist das ganz natürliche Gefühl des Versagens, dass die Lenker der Henkerkarren plötzlich selbst den Regeln ihres stupiden Spiels unterworfen sind, obwohl es eigentlich nicht vorgesehen war. Was die Zukunft bringt, möglicherweise sogar Ansätze von Verantwortung, will sich in den verschwiemelten Birnen der Bonireiter keiner ernsthaft vorstellen. Wozu auch, schließlich sind sie es, die den Takt angeben.

Ein Haufen von Consultern und Coaches wälzt sich im Dreck vor ihnen, ebenso unterprivilegierte Zufallsgeburten, die neben der bekannten Knute notfalls pharmazeutische Glücksversprechen und ein bisschen Bares als Therapeutikum wählen, denn es ist nicht wie beim Bandscheibenschaden, wo man die Zähne zusammenbeißt für die Dividende in der Chefetage; hier wird die Freiheit der Eliten verteidigt, und wann ginge das schon ohne bestialische Gewalt. Wer mutmaßlich das System gefährdet und sich doch nicht für marktkonformes Spontanableben erwärmen kann, der muss halt in Quarantäne gehen, möglichst dem Grad der Larmoyanz entsprechend, den diese Milchmädchen zum Industriestandard erhoben haben.

Mit etwas mehr Rücksichtslosigkeit gegenüber den Rücksichtslosen wäre schon viel gewonnen. Man sollte sie zur Entwöhnung von ihrer Egolepsie der eigenen Gattung aussetzen, gerne im Blaumann statt im Nadelstreif, um die Selbstheilungskräfte mit mehr Schmackes zu aktivieren. Aber vermutlich wollen sie das alles gar nicht, wenn ihnen klar wird, dass sie ohne das Hamsterrad Ananas und Braunalgen züchten könnten, ohne das Bruttoinlandsprodukt nennenswert zu belasten. Vernachlässigen wir sie. Sie könnten es zwar besser als wir, aber wen interessiert das noch, hier und heute.





Trau, schau, wem

30 01 2014

„… die Deutsche Bahn künftig zu kontrollieren. Dobrindt habe erklärt, er wolle sich nicht mehr auf die Zahlen verlassen, die das Unternehmen selbst als Rechtfertigung für Zahlungen, Subventionen und…“

„… einer genauen Prüfung nicht standhalten könne. Die Anschaffungskosten der Drohne seien nicht wie erwartet doppelt so hoch, sondern mehr als…“

„… bei der Finanzierung des Stuttgarter Tiefbahnhofs lediglich ein Komma verrutscht, allerdings um mehrere Stellen nach…“

„… dass die durchschnittliche Fünf-Minuten-Verspätung der Fernzüge wenigstens eine halbe Stunde…“

„… habe die Bundesagentur für Arbeit die Quote der Arbeitslosen versehentlich um fast ein halbe Prozent…“

„… noch nicht sagen könne, wie weit der Börsenpreis für Strom fallen werde, weshalb die Industrie auch noch nicht verraten wolle, wie hoch der Verkaufspreis im kommenden…“

„… dass der Aufklärungsflieger nicht wie erwartet mit wenigen Monaten Verspätung geliefert werden könne. Das Papier von 1999 sei inzwischen nicht mehr…“

„… geringe Summen als Fehlbetrag ausweise. Es könne nur um einstellige Beträge bei der Elbphilharmonie gehen, allerdings Millionenbeträge, da diese sich…“

„… belaste die geplante Pkw-Maut die Bundesbürger tatsächlich nicht um mehr als hundert Euro pro Monat. Tatsächlich liege die Summe knapp oberhalb von…“

„… fließe der gesamte Etat zwar in die Finanzierung der Luftrettungshelikopter, deren Einsatz jedoch entspreche nicht den…“

„… die Erhöhung der erhöhten Zahlen leicht erhöht sei. Dennoch könne man nicht von (wenn auch unabsichtlich) verfälschten Arbeitslosenzahlen ausgehen, sondern müsse die…“

„… angenommen, dass die Auslastung der Reisezüge bei 98% liege. Gesicherte Zahlen gingen inzwischen davon aus, dass es sich dabei um den Grad der Überbuchung handle, der zusätzlich durch…“

„… werde dadurch kompensiert, dass die Benutzung der Bundesautobahnen durch ausländische Fahrzeuge nur knapp ein Drittel der bisher angenommenen…“

„… sei es nicht mehr möglich, die von Hoeneß gezahlte Summe zu eruieren. Alle beteiligten Beamten seien sich jedoch sicher, dass es um einen Betrag im niederen vierstelligen…“

„… die Mietpreisbremse noch nicht umgesetzt. Die SPD gehe davon aus, die Erhöhungen bei maximal 15% zu deckeln, was real höchstens einer Verdreifachung der Kaltmieten in den westdeutschen…“

„… wolle die Deutsche Polizeigewerkschaft die Anzahl der tatsächlich gefahrenen virtuellen Streifen bei Google Street View nochmals prüfen, da die Strecke in eklatantem Missverhältnis zu den Fahrtenbüchern und Kraftstoffabrechnungen…“

„… es sich um höchstens fünf bis sieben, maximal vierzig Prozent zu viel Arbeitslose handeln müsse, die durch versehentliches Herausrechnen aus der…“

„… habe die Deutsche Bahn AG bisher keine belastbaren Zahlen über den Abbau des Schienennetzes beibringen können, da die Schienen, die nachgeprüft werden sollten, bereits entfernt oder nicht mehr…“

„… weniger einbringe. Die Summe liege nur ungefähr 700 Millionen Euro unterhalb der tatsächlichen Betriebskosten, so dass die Autobahnmaut nunmehr einen Fehlbetrag von…“

„… um eine bewusste Fälschung der Quoten gehandelt habe, wenn die Zuschauer von Jauch, Kerner und Lanz als Konsumenten von politischen Sendungen…“

„… eine Neuauszählung der Stimmen der letzten Wahlen zum CSU-Parteivorsitz nicht vorgesehen sei, da ein fehlerhaftes Ergebnis traditionsgemäß nie…“

„… dass die arbeitsuchenden Arbeitslosen eigentlich ja Arbeitslose seien, die Arbeit suchten, was jedoch in der Statistik bisher ausgenommen worden sei, da sie nicht als Arbeitslose, sondern nur als Arbeit suchend zur Beendigung ihrer Arbeitslosigkeit…“

„… um eine erhebliche Kostensteigerung. Die Summe sei nicht genauer zu beziffern, weshalb sich die Deutsche Bahn AG bereiterklärt habe, sie vom Staat zu fordern, ohne zuvor einen…“

„… auch nicht den technischen Spezifikationen entspreche. Laut von der Leyen gehe die Bundeswehr inzwischen davon aus, dass die Flugkörper nur mit Hilfe zusätzlicher Kleinmotoren flugfähig…“

„… eine genaue Zählung ergeben, dass der ADAC nicht wie offiziell angegeben 20 Milliarden deutsche Autofahrer…“

„… mehrfach korrigiert. Die Drohne sei nicht nur nicht in der Lage, länger als sechs Stunden in der Luft zu bleiben, das erste Nachtanken habe bereits vor dem Verlassen des Kasernengeländes…“

„… wobei die fünf Millionen Arbeitslosen noch einmal zusätzlich zu rechnen seien. Sie hätten sich in einer Schublade befunden, die bisher keiner geöffnet habe, da man dort lediglich Arbeitslose und…“





Und verstehe die Freiheit

29 01 2014

„Meine Güte, jetzt kann ich es bald nicht mehr hören!“ „Wem sagen Sie das. Ewig diese Bilder von den Demonstrationen.“ „Und die Polizei, und die Barrikaden und die Straßenschlachten, das ist doch nicht mehr zu ertragen!“ „Und dann diese – ach, was rege ich mich auf.“ „Also mich regt das aber gewaltig auf, das können Sie mir glauben.“

„Mal ehrlich, ich frage mich nämlich langsam mal eins: was ist denn da eine Verfassung noch wert?“ „Sicher nicht das Papier, auf dem sie geschrieben wird.“ „Genau, und dann wird sie auch noch frei Schnauze, ich sage mal: ausgelegt.“ „Wozu diese Zimperlichkeiten, Herr Nachbar? Verbogen wird sie. Zurechtgestutzt.“ „Sie sagen es.“ „Gebeugt, bis sie bricht.“ „Eben, das ist der Punkt – es sind doch nichts anderes als Verfassungsfeinde, das sieht man sofort!“ „Und wehe, man sagt ein Wort dagegen.“ „Jawoll, sofort die Keule. Wir sollen uns nicht einmischen, wir haben da gar nichts zu melden, das sind innere Angelegenheiten.“ „Ich kann’s schon nicht mehr hören.“ „Ich auch nicht, das können Sie mir glauben.“

„Aber ich frage Sie, da ist doch etwas verrutscht in der öffentlichen Wahrnehmung.“ „Sie meinen die mediale Berichterstattung?“ „Nicht nur. Teilweise. Es geht um das, wie soll ich sagen: das öffentliche Bild von öffentlicher Gewalt.“ „Also die Diskussion über das dialektische Verhältnis über die Grenzen des…“ „Nein, das ginge mir schon einen Schritt zu weit. Ich würde niedriger ansetzen.“ „Bei der Sinnfrage oder bei der Frage, wie diese Gewalt entsteht und wohin sie führt?“ „Na, Sie haben ja einen ganz hübschen Überblick.“ „Man macht sich eben so seine Gedanken. Gesamtgesellschaftlich gesehen.“ „Wirklich, Respekt.“ „Ach was, wir haben damals in der Schule etwas darüber gelesen. Man hat ja seine Erfahrungen mit Volksaufständen, wissen Sie.“ „Ja, und es ist eben immer derselbe Grund.“ „Diese… darf ich mal sarkastisch werden, Herr Nachbar?“ „Selbstredend.“ „Dass es immer und immer wieder kleine, ideologisch vernagelte Grüppchen gibt, die sich einbilden, ihre Interpretation von Demokratie sei maßgeblich.“ „Das nenne ich Sarkasmus!“ „Ach, ist doch wahr.“ „Allerdings, allerdings.“

„Dann muss man auch über die Konsequenzen reden.“ „Oder vielmehr erstmal welche ziehen wollen.“ „Ja, natürlich. Wobei auch klar ist, dass beide Seiten das völlig gegenteilig bewerten.“ „Aber es dürfte jetzt doch feststehen, dass keiner so einfach wieder auf den Status quo zurückfallen kann, ohne sich lächerlich zu machen.“ „In der nationalen Politik?“ „Vor der Weltgemeinschaft.“ „Ja, das ist selbstverständlich zu bedenken. Wenn man sieht, dass es immer internationale Resonanz hervorrufen könnte, dann muss man schon auf die Verantwortlichen einwirken, dass sie nach einem kategorischen Imperativ handeln.“ „Man sieht da, wer wirklich Verantwortung übernehmen will.“ „Auch vor der Geschichte.“ „Und wem es im Grunde nur um seine eigenen Ziele geht.“

„Kennen Sie noch dieses Gedicht von Hölderlin?“ „Ach, das mit den Birnen?“ „Nein, dies mit dem Prüfen, und den Himmlischen danken, und verstehe die Freiheit.“ „Ja, das ist heutzutage so ein individualistisches Problem. Es gibt zu viele falsche Deutungen davon.“ „Sie würden also sagen, dass die Freiheit zuerst dem Staat dienen sollte?“ „Nein, der Staat sollte zuerst der Freiheit dienen. Sonst verraten wir ja unsere Ideale.“ „Hm, da ist was dran. Jedenfalls muss man auch immer die staatsrechtliche Sicht der Dinge berücksichtigen, das ist nun mal unerlässlich.“ „Aber man darf auch nicht die Perspektive der Generationen außer Acht lassen.“ „Richtig. Wir haben ja eine junge Generation, die zusehen muss, wie ihre Chancen durch die Alten langsam immer mehr zerstört werden.“ „Für ein bisschen trügerische Sicherheit.“ „Mammon.“ „Und die Illusion, dass ein in sich längst unbeweglich gewordener Staat noch die Aufgaben übernehmen könnte, für die man in installiert hat.“ „Das ist ja sowieso ein Wunschtraum, wer würde das heut noch behaupten. Man ist doch aus der Geschichte klug geworden.“

„Was mir jedoch besonders sauer aufstößt: diese ungebändigten Kräfte laufen ins Leere.“ „Das ist, ich kann es nicht anders sagen, auch geradezu kriminell.“ „Diese Planlosigkeit, ja. Man verteidigt sich doch nicht mit diesem kopflosen Geschrei, das wirft nun wahrhaft kein gutes Licht auf die Ziele.“ „Und auf die Durchsetzung der Ziele.“ „Also schlicht auf die Ideologie, die sich dahinter verbirgt.“ „Natürlich eine Frage der Macht.“ „Und der Ohnmacht.“ „Also wieder ein dialektisches Verhältnis.“ „Und wir sind ja nicht unschuldig an der Misere.“ „Weil wir einfach zuschauen, anstatt endlich klar Partei zu beziehen und zu sagen: halt, bis hierhin und nicht weiter, hier werden Menschenrechte massiv beschnitten, das kann sich keine öffentliche Ordnung gefallen lassen.“ „Aber Sie kennen die Menschen, sie sind bis zum Schluss vollkommen unbelehrbar.“ „Übrigens eine recht interessante Symbolik, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“ „Stimmt, diese Umdeutung des Alltäglichen.“ „Die Klobürsten, also fabelhaft.“ „Wieso Klobürsten? Wo waren denn da Klobürsten? Wovon reden Sie eigentlich die ganze Zeit?“ „Vom Hamburger Gefahrengebiet, und Sie?“ „Na, von Kiew natürlich.“





Der gute Ton

28 01 2014

Minnichkeit druckste herum. „Es hat in der letzten Zeit ein paar Schwierigkeiten gegeben“, begann er vorsichtig. „Das Betriebsklima leidet, wir wollen ja nicht die guten Leute an die Konkurrenz verlieren.“ Ich musterte ihn aufmerksam. „Haben Sie schon einmal mit Ihren Mitarbeitern gesprochen?“ Er sah konzentriert auf den einheitlich grauen Teppich. „Deshalb hatte Frau Schwidarski Sie hergebeten.“ Das leuchtete allerdings ein. In einer PR-Agentur wie Trends & Friends sucht man sich einen Profi für die schwierigen Aufgaben.

„Sie sollten Ihre Mitarbeiter einfach etwas besser kennenlernen“, gab ich Mandy Schwidarski zu verstehen. „Wir haben von jedem einen Lebenslauf“, wandte sie ein. „Außerdem werden die Personalbeurteilungen regelmäßig geschrieben, damit wir wissen, auf welchem Stand wir sind.“ Ich runzelte die Stirn. „Sie können es nicht lassen, wie? Nehmen Sie sie doch einfach mal als Menschen wahr. Sagen Sie, wann war hier die letzte Geburtstagsfeier?“ Der Angesprochene, ein Mann mittleren Alters in einem mittleren Anzug in mittlerem Mittelbraungrau, wusste es sofort. „Letzten Mittwoch, aber ich war nicht dabei. Wir mussten noch die Verträge für Wuster Honigseife schreiben.“ „Das war Frau Pröske aus der Buchhaltung“, beeilte sich Minnichkeit. „Ich bin gerade im Gespräch“, tadelte ich den Assistenten. „Es gehört zum guten Ton, das zu bemerken.“ Der Braungraue blätterte beiläufig in seinem Ordner. „Wir haben zusammengelegt und eine Azalee gekauft. Wir kaufen immer Azaleen, also fast immer. Wenn wir zusammenlegen.“

„Wussten Sie eigentlich, wie in diesem Laden Geburtstage gefeiert werden?“ Mandy wusste es nicht. „Er weiß es doch auch nicht, der ist doch bestimmt erst seit letzten Herbst, nein: Weihnachten, ich war zwar nicht auf der Weihnachtsfeier, weil wir hatten auch gar keine. Wer war das noch mal?“ „Herr Löffler“, bemerkte ich, „seit knapp zwanzig Jahren in diesem Unternehmen, also ungefähr dreimal so lange wie Sie.“ „Warum sagen einem die Leute das nicht?“ Ich war ratlos. „Möglicherweise sind Sie erst zu kurz dabei und haben sich noch nicht richtig eingelebt. Sind Sie sicher, dass alle hier Sie kennen?“ Sie dachte kurz nach. „Doch, bestimmt. Auf den Memos von Minnichkeit steht immer mein Name mit drauf. Komisch, finden Sie nicht auch?“

Ich öffnete aufs Geratewohl die nächste Tür. Dort saß eine hochhackige Dame mit blonden Schuhen, jedenfalls saß sie wieder, als ich die Tür aufgerissen hatte. „’tschuldigung“, stotterte ich, „heute bin ich spät dran. Die Chefin konnte sich mal wieder nicht entscheiden.“ „Wem sagen Sie das“, seufzte die Tippkraft. Mandy verzog angekratzt die Mundwinkel. Selbst schuld, was musste sie auch mithören, was ich mit ihrem Personal zu besprechen hatte. „Also ich gehe jetzt gleich rüber zur Kantine im Hochwasseramt, soll ich etwas mitbringen?“ Sie überlegte einen Augenblick unschlüssig. „Es gibt Schweinefilet ‚Strindberg‘ mit Meerrettich gratiniert, grünen Bohnen und Röstkartoffeln. Und eine Kartoffel-Lauch-Suppe mit Mettwurstscheiben.“ Langsam sollte sie sich entschieden haben, doch sie zögerte noch immer. „Wir gehen ja dienstags immer mit der Frau Böhlstedt und Herrn Kasunke“, gab sie zu Bedenken. „Kasunke ist beim Kunden“, knurrte ich, „der schlemmt heute beim Nobelfranzosen. Und Frau Böhlstedt nimmt vegetarisch.“ Sie konnte und konnte sich nicht entscheiden. „Was gibt es denn heute als Vegetarisches?“ „Blumenkohlcremesuppe mit Mandel-Petersilien-Klößchen.“ Sie zog ihre Handtasche hervor und begann zu kramen. „Dann nehme ich einmal so einen Strindberg, aber bitte mit Kroketten. Und wenn sie keine haben, einmal Salzkartoffeln, aber ohne Butter.“ Sie reichte mir einen Geldschein. „Und eine kleine Flasche von dem Multivitaminsaft.“ Ich steckte den Schein in die Jackentasche. „Gerne. Nachtisch?“ Sie überlegte. „Der Vanillepudding hat immer so eine Haut.“ Ich nickte verständnisvoll. „Das ist doch die Höhe“, grollte Mandy. „Wir geben den Leuten ein einigermaßen gutes Auskommen, sie haben hier Herausforderungen, durchaus, aber wir behalten doch das Miteinander im Auge. So was sagt man doch nicht!“ „Beruhigen Sie sich“, redete ich auf sie ein, „Sie hat es bestimmt nicht so gemeint. Vermutlich ist es nur…“ „Der Pudding hat überhaupt keine Haut“, schrie Mandy. „Die wissen alle nicht, wie gut sie es hier haben!“

Minnichkeit wand sich ein bisschen, aber was half es. Ich schob ihn sanft in den Flur. „Ich kann das aber gar nicht“, jammerte er. „Ganz ruhig“, zischte ich zwischen den Zähnen, „und denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt habe.“ Der Mann am Kopierer grüßte nebensächlich. Minnichkeit blieb stehen. „Was macht eigentlich Ihr…“ Er zeigte mit dem Finger nach unten. „Ach so“, gab der andere zerstreut zurück, „das ist ja schon fast verheilt. Aber jetzt zieht es immer hier im Rücken. Ob ich mal mit dem Training pausiere? oder zwischendurch lieber schwimmen?“ „Schwimmen ist gut“, plapperte Minnichkeit begeistert, „mir hat das ja sehr geholfen, als ich vor einem Jahr das mit der Bandscheibe hatte.“ Mandy stutzte. „Er hatte etwas mit der Bandscheibe? Warum sagt mir das keiner?“ „Vielleicht“, entgegnete ich, „hätten Sie mal mit ihm reden sollen.“





Friedensengel

27 01 2014

„Und Sie haben alle Papiere dabei? Geburtsurkunde und Impfpass und Organspendeausweis? Getauft? Nein, das ist nicht Pflicht, aber Sie wissen ja, als Soldat ist man immer ein bisschen vorsichtig. Na, wird schon schiefgehen.

Das kommt Ihnen nur so vor. Irgendwann ist es eben an der Zeit, da suchen sich unsere Kleinen einen Beruf für Leben – doch, das bietet Ihnen die Bundeswehr. Immer mehr Soldaten kommen lebend von bewaffneten Freiheitsmissionen zurück, so rein statistisch, weil ja auch immer mehr da hinfahren, jedenfalls mehr als früher. Jetzt haben unsere Lieben die Möglichkeit, als Friedensengel ganz neue Chancen wahrzunehmen. Für Deutschland, für Europa, und wenn sie bei der richtigen Tour dabei sind, vermutlich auch irgendwie für den Frieden.

Wir haben die Verteidigungsministerin gefragt, ob das eine Modernisierung ist. Sie hat nicht widersprochen. Okay, sie gut knapp anderthalb Stunden lang irgendwas geredet, aber sie hat es nicht ausdrücklich bestätigt. Damit wären Sie rein rechtlich aus dem Schneider. Wir dürfen uns nicht mehr ständig mit diesen überkommenen Strukturen zufriedengeben, wenn wir die Truppe modernisieren wollen. Über die Hälfte der Frauen werden immer noch belästigt, das ist wirklich erschreckend. Das muss sich ändern. Wissen Sie, ich halte Kinder auch aus dem Grund für eine sehr gute Erweiterung unserer Personalbestände, weil – nein, haben wir nicht. Nur einen Militärbischof, aber der jetzt ist unverdächtig.

Das ist sehr wohl eine sozialverträgliche Aktion. Angehörige der Wehrmacht sind schließlich moralisch viel gefestigter, das wissen wir schon aus der deutschen Geschichte. Daher kann man mit der Wehrerziehung gar nicht früh genug anfangen. Genau, ‚Wehr; wie, was‘. Sehr guter Punkt. Damit kriegt man die jungen Leute. Sittlich auf den Punkt gebrachte Nachwuchsbürger in Uniform, die dann auch nicht mehr so asoziale Sachen wie Ballerspiele brauchen.

Wir bilden die Jugendlichen zwar schon an der Waffe aus, also theoretisch, das heißt: sie werden praktisch theoretisch, weil das ist ja theoretisch für den Praxisbezug, also ist das praktisch in der Theorie auch besser, und dann setzen wir sie aber erst ein, wenn die Voraussetzungen wegfallen. Also die Voraussetzungen, dass wir sie nicht einsetzen können. Nein, das muss man nicht verstehen. Das ist wie mit dem Führerschein, den kann man ja auch schon früher machen, und wenn man ihn dann hat, dann darf man noch nicht fahren, aber wenn man es dann tut, muss man unter Aufsicht sein, weil man sonst ja nicht fahren dürfte ohne Führerschein. Eben, ganz meine Meinung. Warum sollten junge Menschen, die noch nicht fahren dürfen, nicht schon mal praktisch mit der Waffe –

Das ist wegen des internationalen Dialogs, weil die Bundeswehr ja immer mehr im Dialog mit anderen Staaten, und wirtschaftlich, weil das eine der Aufgaben der Freiheit für – wo war ich? Demokratie, danke. Weil in Pakistan nämlich auch Kinder als Soldaten eingesetzt werden, und wenn wir Brunnen bauen und Mädchenschulen bohren, nein: umgekehrt, dann brauchen wir interkulturelle Kompetenz, und daher müssen wir uns mit einer jüngeren Armee vertraut machen. Weil sie die Zukunft unseres Landes ist. Und damit sind wir dann für neue Kontakte gerüstet, beispielsweise mit dem Iran. Oder wo unsere amerikanischen Freunde sonst so einmarschieren. Als Kinderüberraschung.

Natürlich ist das freiwillig. Die können ja nichts dafür, dass ihre Eltern arbeitslos sind. Auf der anderen Seite können wir auch nichts dafür, dass ihre Eltern arbeitslos sind. Und wenn wir alle etwas für die deutsche Wirtschaft tun können, dann sollten wir diese Chance nutzen, ganz familienübergreifend halt. Das ist ja auch eine Chance für den Frieden, und wir könnten mit dem gesparten Geld den Euro retten und die Einkommensteuer senken. Schauen Sie, jedes Volk braucht doch eine gute Perspektive, oder? Lauter ordentliche junge Leute, fleißige Schüler, kein Kontakt mit Schnaps, Drogen oder Rechtsradikalismus, nicht vorbestraft, klar im Kopf. Naja, wir nehmen dann halt die anderen.

Doch, das hat Zukunft. Wir bilden auch nicht über Bedarf aus, im Gegenteil. Wenn Sie bei uns anfangen, dann bleiben Sie auch für den Rest Ihres – jedenfalls ist Ihr Arbeitsplatz bei uns erstmal sicher. Und mit der Ausbildung kann man zwar später im zivilen Leben nicht viel anfangen, aber sehen Sie es mal so: wenn die ersten Jahrgänge durch sind, wird anspruchsloses Personal mit einem leichten Hang zur Selbstverleugnung mehr als je zuvor gefragt sein. Und die Prothetik wird ja auch immer besser. Also für Privatpatienten.

Dann wäre das also geklärt. Und ich kann Ihnen bestätigen im Namen der Freiheit und der freien Menschen in der freien Welt, des freien Welthandels und der europäischen Freiheit, die wir ja überall, und im Hindukusch sowieso, und hier noch eine Unterschrift, wen wir im Falle eines Falles, möglichst mit Handynummer. Prima. Warten Sie, ich hefte das nur eben ab. – Kevin, komm doch mal rein.“





Piepmatz

26 01 2014

Einst hielt ich mir den Kanari.
Eine holde Maid, das war sie,
doch dem Tier nicht zugeneigt.
Konnt mit Schwur und Liebesbanden
bei der Schönen gar nicht landen,
was sich deutlich so erzeigt:
„Sprich zu mir, mein holder Sänger“,
flehte ich, „nur schweig nicht länger,
ob sie mich auch wirklich liebt?“
    Vogel piept.

Nicht mit Blumen und Billetten
konnte ich das Feuer retten,
das ganz sicher in ihr war.
Stunden stand ich am Balkone,
teils mit Schirm und Hut, teils ohne,
wenn das Wetter wunderbar.
„Hilf mir“, bat ich, „wenn die Süße
liest die heißen Liebesgrüße,
ob sie deshalb auch errötet?“
    Vogel flötet.

Ach, es war im Herbstesschauer,
sie kam näher, und genauer
sah ich recht in ihr Gesicht.
Zwar fand ich die großen Ohren
recht apart nun, doch zuvor den
Füßen floh mein Blick auch nicht.
„Vogel“, schrie ich, „diese Dame,
diese geist- und flügellahme,
dass sie meinetwegen ächzt?“
    Vogel krächzt.





In fünf Zeilen um die Welt. Limericks (CLXXVI)

25 01 2014

Als Jerzy und Jacek in Guhden
zum Hof gingen, sahen sie Buden.
Der eine hat Eimer
und Farbe. Geheimer
der andre, es las drin im Duden.

Der Pepi, der turnte in Badl
zur Hetz für ein steirisches Madl.
Die Schöne sekkierte,
das sonst nichts passierte.
Bis auf ein recht brennendes Wadl.

Wie Stanisław einst hört in Flacke,
die Scheune war voll von Geknacke.
Erst tat es ihn schaudern.
Nach längerem Zaudern
fand er seinen Knecht mit der Hacke.

Abdallah, der führt in al-Hidd
fast immer ein Badetuch mit.
Doch nicht 42
im Sinn, nein: er schirrt sich
damit für den Dromedarritt.

Da Kasimir in Groß Gardienen
im Garten saß, sonnenbeschienen,
sah er, was im Schatten
geschah, nicht. Dort hatten
zwei Diebe gar heitere Mienen.

Als Besnik die Tür schloss in Baz,
da wurmt’s ihn. Er ahnte sowas.
Doch lief er fort munter,
und schon kam es runter
vom Himmel. Und er wurde nass.

Da Łukasz vor Hunger in Heller
der Magen knurrt, läuft er zum Keller.
Er weiß ja, dort winken
ihm Äpfel und Schinken,
das macht: er läuft nun umso schneller.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCXXVI): Der Krieg gegen den Terror

24 01 2014
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die Menschheit – und das ist das Problem, dass es die Menschheit war und nicht ein paar Karnevalspräsidenten der unwichtigsten Staaten hinter den sieben Bergen – hat einen Krieg überstanden, noch einen, einen Kalten Krieg, die Banalität des Blöden und den Knall, mit dem die politischen Glaubenssysteme auseinanderflogen. Eins pfiff scheinbar zusammen wie ein perforiertes Gummiferkelchen, das andere bildet sich ein, bis heute überlebt zu haben. Doch hat es das? Und wenn ja, wozu? Und wenn das hier das Zeitalter der vergoldeten Sitzflächen sein soll, was war dann der Krieg? oder war es am Ende umgekehrt?

Der Clash der Kulturen ist ein deutlich vorzivilisatorisches Modell: wer nicht dieselbe Sprache grunzte, anders roch, nicht zu Nnng’txx betete oder auch nur ein Tal weiter wohnte, durfte rechtskonform zu Biomasse gekloppt werden. Diverse Geistesgrößen, Anstreicher und Texaner waren damit schon gründlich überfordert, weshalb sie die Anleitung dankend zur Kenntnis nahmen und eine Partie Nachdenken aussetzten. Allein die Idee, Kulturkreise mit dem Stechzirkel abzuteilen und in quasistaatliche Grenzen einzupferchen ist eine Beleidigung des Hominiden, sie funktioniert weder in Afrika noch in Asien nur ansatzweise, höchstens bei Deutschen und Österreichern lassen sich zeitweilig ähnliche Defekte feststellen. Und schon haben wir die Realitätsverweigerung mit Anlauf für die geistig nicht gesegneten Schichten aus der Schublade geholt, den Rassismus und seine humpelnden Geschwister. Was aber macht der gemeine Heckenpenner, wenn er in seiner sozialen Situation keinen adäquaten Feind hat, um die Zwangslage auszuleben? Woher den Terror nehmen und nicht stehlen?

Eine Gesellschaft, die neben den wenigen zum Popanz aufgeblähten Unterschieden zum überwiegenden Teil aus Identitäten besteht, muss ihre Bedrohungen orgiastisch inszenieren, um sich überhaupt abgrenzen zu können. Syrer, Kurden, Norweger und Saudis, Süd- und Sauerländer und andere Abrahamiten, Wahhabiten, Salafisten, Pseudochristen, Tali- und Katholiban essen Brot und Reis, fahren Autos, lesen Zeitungen und tragen Unterwäsche, nutzen den elektrischen Strom, den Funkverkehr und Schusswaffen. Manchmal auch aus ähnlich gelagerten Gründen. Also ist es der atypische Geruch, die undurchschnittliche Nase, das allgemein und was auch immer Fremde, das die anderen anders und fremd und damit zu Fremden und den Anderen macht, die ja zum Glück nicht so gleich sind, als dass man sich mit ihnen verständigen können müsste. Was aber, wenn der Fremde an sich schon fast in der amorphen Masse einer konturlosen Gesellschaft verschwimmt und sich die Distinktion nur noch an drei Haaren herbeizerren ließe?

Man nimmt ein Haar, es ist breit genug, um sich gegen die dräuende Gefahr zu wehren. Schon ist das Alltägliche Überträger der Seuche – Brot und Zeitungen, Unterwäsche, Zahnpastatuben auf der Flugreise – und wer das in die Hand nimmt, Sauerländer oder Saudi, ist schon wumpe. So wird der Krieg zum bürgerlichen Vergnügen für die ganze Familie, ein Vorbild für immer neue Verschwörungstheorien, die sich ein paar prominent platzierte Heißdüsen aus den billigen Resten von der Rampe schwiemeln. Die Schlacht findet am Hindukusch hinterm Dorfbrunnen statt und auf den Weihnachtsmärkten, in der U-Bahn und auf der Festplatte. Die Menschheit – und hier ist es erst recht ein Problem, wenn ein nicht gerade bedeutender Teil von ihr sich selbst als absolut Menschenhaftes zu begreifen wagt – schrumpft und büßt an Macht und Einfluss ein, plärrt aber um so lauter nach Einfluss, Macht und Absolutheit. Und erklärt alles, was dem Anspruch zuwiderlaufen könnte, zum Terror, nicht ahnend, dass sie selbst den Krieg erklärt hatten.

Denn wie sonst soll ein in sich geschlossenes Weltbild, das nur dann verteidigt werden muss, wenn sich diese verdammte Realität nicht daran halten will, beim Wirtschaftswachstum etwa oder bei der Klimaerwärmung – wie sonst soll ein patentierbares Weltbild Geschichte oder eine metaphysische Perspektive entwickeln, wenn nicht durch eine zünftige Apokalypse? Längst sind wir eine Welt, und wenn der Nachbar die Bombe zusammenrührt, mit der wir uns gemeinsam in die Luft jagen, so hält er sich an die Hausordnung der Götterdämmerung. Das Gefährliche ist das Fremde, und wir sollten nach herrschender Meinung der meinenden Herrscher nie versuchen, es uns vertraut zu machen. Der Terror ist eine Funktion der Gesellschaft, der Krieg gegen ihn ein wenigstens engagiert geführter Versuch, die Selbstauslöschung nicht mit allzu viel Stil über die Bühne zu bringen. Das wenigstens unterscheidet uns dann vom Finalgetöse, wie es sich die heiligen Schriften aus den tintigen Fingern gesogen haben. Dann gehen wir alle dabei drauf, die Menschheit – und das dürfte nicht einmal ein Problem darstellen.





Sendeschluss

23 01 2014

„Und wissen Sie, was Sie jetzt gewonnen haben?“ Doktor Happonen setzte ein Häkchen auf der Liste, während der dicke Mann mit dem schütteren Haar schnaufend durch das kleine Zimmerchen turnte. „Wissen Sie, was Sie jetzt gewonnen haben? Wissen Sie das!?“ Seine Begeisterung war schier nicht zu bremsen.

„Früher oder später kommen sie alle zu mir.“ Doktor Happonen war von einer stoischen Ruhe, die noch einer Betonwand gespottet hätte. „Ich kenne die Branche. Bei manchen dauert es etwas länger, manche sind auch zweimal hier, und manche – aber Sie sehen es ja selbst.“ Der Patient war wohl einmal ein bekannter, wenn nicht gar berühmter Quizmaster, dessen Namen nur keiner mehr wusste. Ständig trippelte er durchs Zimmer, als suchte er die Kamera. „Und das hier haben Sie gewonnen!“ Er verbeugte sich vor imaginären Beifallssalven. „Das ist durchaus nicht ungewöhnlich“, informierte mich der Therapeut. „Die meisten Sendungen werden ja heute völlig ohne Zuhilfenahme von Publikum aufgezeichnet, und in den Proben lernt man auch, sich ohne die Applauskonserve zu verbeugen.“ „Der aktuelle Stand unserer Unterhaltungsindustrie“, antwortete ich düster, „lässt zu wünschen übrig.“ „Ach was“, gab er gleichmütig zurück. „Das ist nicht der aktuelle Stand. Heutzutage produziert man längst Sendungen ohne Zuhilfenahme von Zuschauern.“

Zwei alternde Matronen in Dirndlschürzen vollführten eine Art volkstümlichen Rheumatismus, eine Tür weiter lief ein schwer impulsgesteuerter Mann im verwaschenen Trainingsanzug auf, wie er selbst meinte übrigens zur Hochform. „Hier! Kennter, kennter? Kennter? Ja, kennter?“ „Lassen Sie ihn doch bitte endlich kentern“, grummelte ich, aber der Doktor hielt mich zurück. „Drehen Sie sich mal zur Seite.“ Kaum hatte ich das Gesicht ein bisschen bewegt, sackte der im Ballonseidenanzug in sich zusammen, als hätte jemand die Luft aus ihm gelassen. „Jetzt einmal kurz hingucken.“ Ich starrte ihn an. „Kurz“, mahnte Doktor Happonen, doch ich war nicht schnell genug. „Hier, Bad Bederkesa! Be-der-ke-sa! Kein Witz, kein Witz!“ Ich musterte aufmerksam meine Schuhspitzen, aber er hatte schon zu hyperventilieren begonnen. „Hier, kennter doch, Bederkesa!“ Noch zappelte er, aber lange würde er es nicht mehr durchhalten können. „Bederkesa!“ „Wie Sie sehen, haben wir auch hier das Problem, dass wir die falschen Leute im Fernsehen auftreten lassen. Aber was sage ich Ihnen, gleich gegenüber ist ja der beste Beweis für meine Theorie.“

„Sie sind also für Atomstrom?“ Ein etwas streng gescheitelter Typ im glänzenden Jackett – offenbar aus demselben Stoff, aus dem auch der Trainingsanzug des abgehalfterten Komikers bestand – drängte sich an die Tür und versuchte gleich, mich am Kragen zu packen. Doktor Happonen hielt sofort seinen Arm dazwischen. „Also sind Sie für Atomstrom. Wie können Sie in so einem Fall eigentlich Kinder in die Welt setzen?“ „Ich habe gar keine…“ „Ach was“, schrie die schmierige Gestalt. Verdammt, ich war ihm auf den Leim gegangen. „Weil Sie keine Kinder haben, glauben Sie natürlich sofort, Sie müssten für Atomstrom sein. Und das finden Sie gut, ja!?“ Da war nichts zu machen. Aber ich hatte auch so keine Chance mehr, denn er führte seinen Dialog einfach ohne mich weiter. „Und weil Sie gegen Atomstrom sind – lassen Sie mich jetzt mal ausreden! weil Sie strikt gegen Atomstrom sind, Sie haben ja nicht gesagt, Sie wären dafür, dann sind Sie also dagegen, und deswegen muss ich jetzt meinen Kindern erklären, warum Sie keine haben, die dann meine Rente bezahlen? Also sagen Sie mal, Rente: ja oder nein? Und finden Sie Ihre Antwort eigentlich gut? Oder doch?“ Doktor Happonen klappte die Tür zu. „Man kann Sendungen nicht nur ohne Zuschauer produzieren“, befand ich. „Bei manchen sollte man es sogar.“ „Aber das ist nur eine andere Symptomatik desselben Fehlverhaltens. Es ist wie drüben.“ Happonen zeigte mit dem Daumen zu dem Komiker, der noch immer keuchend durch seine Kammer torkelte. „Sie wollen gar nichts darstellen, sie können auch gar nichts darstellen. Nur sich.“ Ich runzelte die Stirn. „Dann stellen sie ja wenigstens etwas dar.“ Er schüttelte den Kopf, leise, aber aus Gewohnheit vollkommen frei von Resignation. „Kaum. Sie sind ja nichts.“

Rhythmisches Schlurfen und ein seltsamer Singsang waren aus dem Zimmer mit dem großen Fenster zu hören. „Baby“, gab die Stimme bekannt, „Baby, heut’ Na-hacht, oh Baby!“ Das Hüftwackeln war durchaus gekonnt, zwar nicht für meine Zielgruppe gedacht, aber technisch einwandfrei. Hier war ein Könner am Werk, ein großer Bühnenstar, wie er lasziv mit dem Mikrofon am Bühnenrand entlang schlurchte. „Welch anmutige Verwendung der Haarbürste“, flüsterte ich fasziniert. „Der Mann hat echt Talent.“ Er musterte mich und schlenkerte mit seinen ausladenden Schritten in meine Richtung. „Für Dich bin ich immer noch Der Händler, klar!? Aber Du darfst Händler zu mir sagen.“ Ich fühlte mich geschmeichelt. Der Doktor hakte die Liste ab. „Austherapiert“, sagte er trocken. „Morgen ist Entlassung, wir brauchen den Platz für einen hartnäckigen Rechtspopulisten, der sich nicht aus den Talkshows entfernen lässt.“ Und er klopfte dem Sänger beruhigend auf die Schulter. „Sie haben Glück, junger Freund.“ Der Mann strahlte. „Wir bringen Sie ganz groß raus.“





Honi soit qui Mali pense

22 01 2014

„Und, schon die Sonnencreme eingepackt?“ „Witzbold, wir fahren doch nicht selbst.“ „Nicht? Und ich hatte mich schon so auf einen netten kleinen Urlaub im Süden gefreut, nur Sie und ich und ein paar hundert Soldaten.“

„Im Vertrauen, das macht der doch bloß, weil die Truppenursel dafür nicht den Arsch in der Hose hat.“ „Nein, das glaube ich nicht. Für die Interessen der europäischen Industrie ein paar Neger zu Klump bomben, das macht die doch schon aus christlicher Nächstenliebe.“ „Auch wieder wahr. Und sie muss nicht den Kopf dafür hinhalten.“ „Dass sie jetzt Verteidigungsministerin ist, hatten Sie aber schon mitgekriegt?“ „Dann scheint Ihnen entgangen zu sein, dass die Militärpolitik jetzt vom Außenminister gemacht wird.“ „Sie meinen die deutsche Militärpolitik?“ „Und den französischen Außenminister.“ „Dann hat die Dame schnell gelernt, wenn sie jetzt die Füße stillhält.“ „Das dürfte ein paar Menschenleben kosten.“ „Hat sie das bei den Regelsätzen für arme Kinder interessiert?“ „Touché.“

„Das dürfte neu sein: der Außenminister gibt die komplette Richtung der Interventionspolitik an eine befreundete Nation ab.“ „Meinen Sie?“ „Der zweite Golfkrieg war keine Interventionspolitik, das war etwas, was man im landläufigen Sinne als…“ „Geschenkt. Und befreundete Nationen?“ „Die USA waren immer ein überlegener Partner, solche Freundschaften sucht man sich nicht aus.“ „Und deshalb glauben Sie, dass es diesmal richtig sein könnte?“ „Hat doch in Afghanistan schon mal ganz prima geklappt.“

„Aber man müsste doch jetzt mal einigermaßen umreißen können, wie groß die Konflikte dort sind. Sonst wird man das nie lösen können.“ „Wozu auch.“ „Sie meinen, wir sind nicht da, um Konflikte zu lösen?“ „Die wirklich interessanten Konflikte entstehen doch immer erst, wenn die Befreier im Land sind. Wenn Rebellengruppen sich teilen oder plötzlich zu den verfeindeten Stammesfürsten überlaufen.“ „Und davon profitieren wir dann?“ „Zumindest ist dadurch unser Einsatz gerechtfertigt. Werden deutsche Soldaten erst einmal beschossen, dann wollen sie sich auch zur Wehr setzen.“ „Allerdings, eins verstehe ich ja nicht. Was soll denn das alles?“ „Meine Güte, Sie sind ja vielleicht naiv!“ „Weil die Bundeswehr bald der attraktivste Arbeitgeber von ganz Deutschland werden soll?“ „Einfacher.“ „Damit die Sicherheit…“ „Warm.“ „Also die Sicherheitsinteressen…“ „Kälter.“ „Also Arbeitsplätze?“ „Auch. Aber gut eine Woche vor der größten Waffenverkaufsschau Europas so einen kleinen Privatkrieg rauszuhauen – alle Achtung.“ „Das ist gut für die deutsche Rüstungsindustrie?“ „Als hätte der ADAC den Kampfpanzer des Jahres gekürt.“

„Wir sollten das alles viel positiver sehen.“ „Finde ich ja auch. Man lernt dabei die Welt kennen und die Völker schätzen.“ „Somalia, Zentralafrika, den Südsudan.“ „Honi soit qui Mali pense.“ „Kleiner Scherzbold!“ „Na, das ist doch die Chance für Afrika! Endlich nehmen die am großen Zirkus teil!“ „Finde ich aber auch, warum soll immer nur der Irak neue Mädchenschulen bekommen.“ „Jetzt müssten Sie mir nur mal schnell erklären, worum es da bei der französischen Mission eigentlich ging.“ „Um Gold. Oder Uran. Oder so.“ „Nein, was war die offizielle Begründung?“ „Irgendwas mit islamistischen Terroristen, die aber nichts mit der Regierung oder den Tuareg zu tun haben.“ „Und die Regierung wir nicht mit den Terroristen fertig?“ „Die interessieren doch keinen, die Regierung bekämpft die Tuareg.“ „Weil die islamistische Fanatiker sind?“ „Nein, weil die eben keine islamistischen Fanatiker sind.“ „Na, dann ist die Sache doch klar. Die Tuareg umnieten und uns den Weg zu den Uranfeldern sichern.“ „Und das nimmt man uns ab?“ „Was war im Irak anders?“

„Aber Frankreich ist für Mali doch nicht einmal mehr der Haupthandelspartner.“ „Deshalb muss man Werbung machen. Vertriebsaußendienst, Sie verstehen?“ „Und das führt jetzt zu großen Solidaritätskundgebungen und internationalem Pathos?“ „Also früher hat man auch immer besonders viel außenpolitisches Getöse gemacht, wenn im Innern alles schiefging.“ „Hm, verstehe. Dann wird jetzt Deutschlands Freiheit auch in Mali verteidigt?“ „Logisch. Und wenn Mali verloren geht, wer weiß, was dann mit dem Euro passiert.“

„Und unser Agenda-2010-Fritze, der Frank-Walter, der hinterlässt gar keine eigene Handschrift auf dem Ding?“ „Na sicher doch. Überlegen Sie mal.“ „Ein-Euro-Job?“ „Lassen Sie die Bundeswehr aus dem Spiel.“ „Hilfe zur Selbsthilfe?“ „Geht doch. Wir liefern ein schönes großes Paket Waffen nach Bamako, und dafür werden wir bevorzugt behandelt. Staatsschulden sind Ehrenschulden.“ „Sagt das Schäuble auch immer?“ „Auf jeden Fall lassen wir sie nicht allein.“ „Die Malinesen?“ „Die Franzosen natürlich. Da ist so viel Stoff im Land, das kriegen die alleine gar nicht rausgeschleppt.“ „Dann sollten wir dabei sein.“ „Nicht, dass der Köhler noch umsonst zurückgetreten wäre.“ „Na, dann packen Sie mal schön. Was gefunden?“ „Nicht für mich. Aber diese Mütze hier aus dem Entwicklungsministerium, ob die Steinmeier passt?“