„Und wissen Sie, was Sie jetzt gewonnen haben?“ Doktor Happonen setzte ein Häkchen auf der Liste, während der dicke Mann mit dem schütteren Haar schnaufend durch das kleine Zimmerchen turnte. „Wissen Sie, was Sie jetzt gewonnen haben? Wissen Sie das!?“ Seine Begeisterung war schier nicht zu bremsen.
„Früher oder später kommen sie alle zu mir.“ Doktor Happonen war von einer stoischen Ruhe, die noch einer Betonwand gespottet hätte. „Ich kenne die Branche. Bei manchen dauert es etwas länger, manche sind auch zweimal hier, und manche – aber Sie sehen es ja selbst.“ Der Patient war wohl einmal ein bekannter, wenn nicht gar berühmter Quizmaster, dessen Namen nur keiner mehr wusste. Ständig trippelte er durchs Zimmer, als suchte er die Kamera. „Und das hier haben Sie gewonnen!“ Er verbeugte sich vor imaginären Beifallssalven. „Das ist durchaus nicht ungewöhnlich“, informierte mich der Therapeut. „Die meisten Sendungen werden ja heute völlig ohne Zuhilfenahme von Publikum aufgezeichnet, und in den Proben lernt man auch, sich ohne die Applauskonserve zu verbeugen.“ „Der aktuelle Stand unserer Unterhaltungsindustrie“, antwortete ich düster, „lässt zu wünschen übrig.“ „Ach was“, gab er gleichmütig zurück. „Das ist nicht der aktuelle Stand. Heutzutage produziert man längst Sendungen ohne Zuhilfenahme von Zuschauern.“
Zwei alternde Matronen in Dirndlschürzen vollführten eine Art volkstümlichen Rheumatismus, eine Tür weiter lief ein schwer impulsgesteuerter Mann im verwaschenen Trainingsanzug auf, wie er selbst meinte übrigens zur Hochform. „Hier! Kennter, kennter? Kennter? Ja, kennter?“ „Lassen Sie ihn doch bitte endlich kentern“, grummelte ich, aber der Doktor hielt mich zurück. „Drehen Sie sich mal zur Seite.“ Kaum hatte ich das Gesicht ein bisschen bewegt, sackte der im Ballonseidenanzug in sich zusammen, als hätte jemand die Luft aus ihm gelassen. „Jetzt einmal kurz hingucken.“ Ich starrte ihn an. „Kurz“, mahnte Doktor Happonen, doch ich war nicht schnell genug. „Hier, Bad Bederkesa! Be-der-ke-sa! Kein Witz, kein Witz!“ Ich musterte aufmerksam meine Schuhspitzen, aber er hatte schon zu hyperventilieren begonnen. „Hier, kennter doch, Bederkesa!“ Noch zappelte er, aber lange würde er es nicht mehr durchhalten können. „Bederkesa!“ „Wie Sie sehen, haben wir auch hier das Problem, dass wir die falschen Leute im Fernsehen auftreten lassen. Aber was sage ich Ihnen, gleich gegenüber ist ja der beste Beweis für meine Theorie.“
„Sie sind also für Atomstrom?“ Ein etwas streng gescheitelter Typ im glänzenden Jackett – offenbar aus demselben Stoff, aus dem auch der Trainingsanzug des abgehalfterten Komikers bestand – drängte sich an die Tür und versuchte gleich, mich am Kragen zu packen. Doktor Happonen hielt sofort seinen Arm dazwischen. „Also sind Sie für Atomstrom. Wie können Sie in so einem Fall eigentlich Kinder in die Welt setzen?“ „Ich habe gar keine…“ „Ach was“, schrie die schmierige Gestalt. Verdammt, ich war ihm auf den Leim gegangen. „Weil Sie keine Kinder haben, glauben Sie natürlich sofort, Sie müssten für Atomstrom sein. Und das finden Sie gut, ja!?“ Da war nichts zu machen. Aber ich hatte auch so keine Chance mehr, denn er führte seinen Dialog einfach ohne mich weiter. „Und weil Sie gegen Atomstrom sind – lassen Sie mich jetzt mal ausreden! weil Sie strikt gegen Atomstrom sind, Sie haben ja nicht gesagt, Sie wären dafür, dann sind Sie also dagegen, und deswegen muss ich jetzt meinen Kindern erklären, warum Sie keine haben, die dann meine Rente bezahlen? Also sagen Sie mal, Rente: ja oder nein? Und finden Sie Ihre Antwort eigentlich gut? Oder doch?“ Doktor Happonen klappte die Tür zu. „Man kann Sendungen nicht nur ohne Zuschauer produzieren“, befand ich. „Bei manchen sollte man es sogar.“ „Aber das ist nur eine andere Symptomatik desselben Fehlverhaltens. Es ist wie drüben.“ Happonen zeigte mit dem Daumen zu dem Komiker, der noch immer keuchend durch seine Kammer torkelte. „Sie wollen gar nichts darstellen, sie können auch gar nichts darstellen. Nur sich.“ Ich runzelte die Stirn. „Dann stellen sie ja wenigstens etwas dar.“ Er schüttelte den Kopf, leise, aber aus Gewohnheit vollkommen frei von Resignation. „Kaum. Sie sind ja nichts.“
Rhythmisches Schlurfen und ein seltsamer Singsang waren aus dem Zimmer mit dem großen Fenster zu hören. „Baby“, gab die Stimme bekannt, „Baby, heut’ Na-hacht, oh Baby!“ Das Hüftwackeln war durchaus gekonnt, zwar nicht für meine Zielgruppe gedacht, aber technisch einwandfrei. Hier war ein Könner am Werk, ein großer Bühnenstar, wie er lasziv mit dem Mikrofon am Bühnenrand entlang schlurchte. „Welch anmutige Verwendung der Haarbürste“, flüsterte ich fasziniert. „Der Mann hat echt Talent.“ Er musterte mich und schlenkerte mit seinen ausladenden Schritten in meine Richtung. „Für Dich bin ich immer noch Der Händler, klar!? Aber Du darfst Händler zu mir sagen.“ Ich fühlte mich geschmeichelt. Der Doktor hakte die Liste ab. „Austherapiert“, sagte er trocken. „Morgen ist Entlassung, wir brauchen den Platz für einen hartnäckigen Rechtspopulisten, der sich nicht aus den Talkshows entfernen lässt.“ Und er klopfte dem Sänger beruhigend auf die Schulter. „Sie haben Glück, junger Freund.“ Der Mann strahlte. „Wir bringen Sie ganz groß raus.“
Satzspiegel