„Er treibt mich noch in den Wahnsinn!“ Von Bruno, dem Küchenchef mit den hummergleichen Schnurrbartspitzen, hätte ich jederzeit einen Nervenzusammenbruch erwartet. Der ältere der beiden Bückler-Brüder, der im Landgasthof Aal in Gelee kochte und Schwarzsauer, er war ein Nervenbündel. Aber sein Bruder Hansi?
„Dieser Junge kostet mich die letzten Haare auf dem Kopf und treibt mich in absehbarer Zukunft ins Grab.“ Er tupfte sich den Schweiß von der Stirn und klammerte sich verzweifelt am Stehpult fest. „Sie schicken einem sowieso nur Idioten, aber das hier ist wirklich die Höhe.“ Der Mann vom Service zeigte erschöpft auf den Kellner, der mit wehender Schürze und flamboyanter Frisur zwei Salatteller durch den Raum stemmte. „Mein Name ist Kevin“, quiekte er, „und ich bin Ihr Ober!“ Ich begriff. „Sie machen jetzt diese Castingshows, und er hat ein Praktikum gewonnen.“ Hansi nickte. „Er vergrault uns die Gäste, und wir sind völlig machtlos.“
Unterdessen hatte Bruno, den sie nicht ohne Ehrfurcht Fürst Bückler nannten, den Edelfisch auf Kerbelschaum aus der Küche gegeben. „Marsch an Tisch zwei“, knurrte er. „Ich will hier keine Faulpelzerei sehen!“ „Seit wann kümmert er sich um die Gäste“, wunderte ich mich. „Sonst kommt er doch nie aus der Küche raus.“ Hansi seufzte. „Wenn Du wüsstest. Ich bin ja nur noch damit beschäftigt, unseren Jungspund einzubremsen.“
Tatsächlich hatte er allen Grund dazu. Kevin stolzierte durch die Gaststube, als läge ein ganzes Kamerateam auf der Lauer. „Ich bringe Ihnen die Speisekarte“, krähte er den Herrschaften an Tisch vier ins Ohr, reifere Jahrgänge, aber sichtlich noch nicht ertaubt. Schon warf er sich in Pose. „Und das vor Professor Hornbichler und Gattin“, ächzte Hansi, „Stammgäste seit dreißig Jahren, die nächstes Jahr ihren Hochzeitstag bei uns feiern wollten.“ Irgendetwas störte mich daran. „Das ist doch nicht normal“, argwöhnte ich, „wer würde sich denn so verhalten, zumal ihn hier auch keiner beobachtet.“ Hansi zuckte die Achsel. „Dieser Psychoheini ist auch nur am ersten Tag dabei gewesen.“ Jetzt schwante mir etwas.
Ich pfiff ihn heran. „Mein Name ist Kevin“, dienerte er, nicht unartig, aber etwas übertrieben, „und ich kann Ihnen leider keinen Tisch anbieten, da heute alles ausgebucht ist.“ „Sehr gut“, lobte ich ihn. „Sehr gut machen Sie das. Wer hat Ihnen das beigebracht?“ „Mein Karrierecoach“, plapperte er. „Da habe ich auch gelernt, dass ich es schaffen kann, wenn ich nur will.“ „Ich hatte es mir schon gedacht“, flüsterte ich Hansi zu. „Komplett gehirngewaschen, der Knabe. Sie heuern einen Psychodoktor an, um die Bewerber genügend unter Druck zu setzen.“ „Das hier ist meine persönliche Aufgabe“, erzählte der Junge mit leuchtenden Augen, „wenn ich eine Woche lang als Kellner arbeite, werde ich vielleicht befördert.“
Hansi war offensichtlich überfordert. „Ich verstehe das nicht“, stotterte er. „Waren wir damals genauso?“ „Bestimmt nicht“, antwortete ich. „Wir mussten uns nicht diesen Positivdenkerschrott antun. Was die jungen Leute inzwischen eingetrichtert bekommen, kann man ja nur noch als Psychoterror bezeichnen.“ Kevin hatte unterdessen einen anderen Gast nachhaltig mit Kalbsbäckchen an Morchelrahm verstört. Er blickte sich um, als würde jederzeit das Unterschichtenfernsehen aus der Tischdekoration krabbeln. „Ich halte das nicht aus“, stöhnte Hansi. „Das halte ich einfach nicht aus, der macht mir meinen ganzen Service verrückt.“ Schon hatten sich die anderen Kräfte angesteckt. „Mein Name ist Lohse“, dienerte die Fachkraft an Tisch fünf, „ich trage hier auf.“
„Sie haben ihm einen Wahnsinnsjob versprochen“, berichtete ich Bruno. „Kein Wunder, dass er sich so ins Zeug legt.“ Seine Antennen vibrierten leise. „Er hat mich die Hälfte meiner Haare gekostet, aber er ist mein kleiner Bruder. Wir müssen da etwas machen.“ „Aber sei vorsichtig mit dem Jungen“, mahnte ich. „Freiwillig macht er das nicht. Wahrscheinlich haben sie ihn so lange weichgekaut, bis er selbst an diesen Hokuspokus geglaubt hat.“ „Immerhin arbeitet er an sich“, befand Bruno, „zwar etwas zwanghaft, aber ich habe noch jeden klein gekriegt. Petermann!“ Der Entremetier, die Seele der Küchenbrigade und Bücklers rechte Hand, griff automatisch unter den Tresen und reichte dem Küchenmeister etwas an. „Kevin“, rief er, „ich habe hier eine sehr individuelle Challenge für Dich, die Dir sehr viele neue Kompetenzen bringen wird. Du wirst eine ganz neue Erfahrung machen.“
Hansi klappte seine Brille zusammen. „Ausgezeichnet“, stellte er fest. „Auf zwei Wochen ausgebucht, Professor Hornbichler war vom Dessert sehr angetan, und die neuen Gäste an Tisch sieben verstehen etwas von Fisch.“ „Und Kevin?“ Er nickte zur Küchentür hinüber. Dort stand der Knabe, heulend, aber nicht unglücklich. „Mein Name ist Kevin, und ich schneide zwei Säcke Zwiebeln für Sie.“ Bruno zupfte an seinem Halstuch. „Und damit weiß er auch schon, womit er das nächste halbe Jahr verbringen wird.“
Satzspiegel