Notaufnahme

17 04 2014

Noch nie hatte ich einen Menschen gesehen, der sich so gegen sein Schicksal wehrte. Ich hatte Kälber gesehen, die dunkel ahnten, dass ihre Reise sie ins Verderben führen sollte, vierschrötige Kerle, die beim Anblick eines Zahnarztstuhls grün im Gesicht wurden, und jenen dicken Juristen, der vor der Tür zum Rigorosum zusammenbrach, aber noch nie hatte jemand sich mit derartiger Verzweiflung gesträubt, durch eine Tür zu gehen. „Sein Pech“, bemerkte Siebels und nippte am Automatenkaffee. „Er wollte ins Fernsehen, jetzt ist er im Fernsehen.“

Tatsächlich zerrten zwei kräftige Türsteher den sich windenden Jugendlichen ins Studio, wo eine johlende Menschenmenge auf ihn wartete. Fast hätte ich Mitleid mit ihm empfunden. „Lassen Sie es gut sein“, winkte der Produzent ab. „Er hat sich das hier redlich verdient – das Opfer wird vermutlich noch ein halbes Jahr lang an Krücken gehen, und das Urteil ist rechtskräftig. Sparen Sie sich Ihr Mitleid. Er hat es nicht anders verdient.“

Natürlich hatte er, wie meistens, recht. Der junge Mann, ein Heranwachsender aus bildungsfern anmutender Umgebung, so viel war an seiner Bekleidung schon ersichtlich, er hatte noch am Vormittag geprahlt. Einerseits damit, wie der den Rentner für ein angebrochenes Päckchen Zigaretten in der U-Bahn zusammengeschlagen hatte, und andererseits war er sich noch im Angesicht der Probeaufnahmen sicher, als großer Star aus der Aufzeichnung herauszukommen. „Das scheint sich bei den meisten festgesetzt zu haben“, argwöhnte ich. Siebels nickte. „Es sitzt nur noch fester, dass sie ja alle furchtbar begabt sind.“ Lauter Rapper, Tänzer, Moderatoren saßen dort im Warteraum, der Strafprozessordnung folgend meist in Handschellen und von zwei Polizisten bewacht. „Und es ist ganz normal, dass sie das bis zum Schluss glauben?“ Er grinste schief. „Manche merken es nicht einmal hier.“

Auf der anderen Seite hatte ein Wachmann den lässig tänzelnden Autoknacker im billigen Kunstseidenanzug bereits in den Monitorraum gebracht. Gleich würde der Moment der Wahrheit stattfinden. „Er glaubt immer noch, dies sei eine ganz normale Casting-Show.“ Der Delinquent wurde nicht einmal misstrauisch, als man ihm die Kopfhörer fixierte; er würde sie nicht mehr ohne fremde Hilfe absetzen können, doch das wusste er noch nicht. Auf dem Bildschirm sah er nun sich selbst, wie er eine Stunde zuvor das Aufzeichnungsstudio betreten hatte, überheblich lächelnd, bereits in Siegerpose, obwohl er noch so gut wie nichts geleistet hatte. Noch wusste er nicht, was ihn gleich erwarten würde, viel mehr: er wusste es eigentlich schon, machte sich aber ein völlig falsches Bild davon. „Jetzt“, flüsterte Siebels. In diesem Moment setzte der Gesang ein.

Der Mann wand sich vor Schmerzen, vielmehr: er schämte sich beinah zu Tode. Der Wachmann kümmerte sich nicht um ihn; vollkommen ungerührt blieb er in der Tür stehen und sah zu, wie der Delinquent sein eigenes Geräusch erduldete. „Er hört sich zum ersten Mal im Leben selbst singen“, stellte ich fest. Siebels zog die Stirn in Falten, ironisch. „Ich würde das nicht unbedingt als Singen bezeichnen“, witzelte er, „aber sonst würde ich Ihnen nur ungern widersprechen.“ Dieses peinliche Gejammer, als hätte man dem Autodieb bereits hier alttestamentarische Strafen angetan, löste auch bei mir körperliches Unwohlsein aus. Dem jungen Mann da unten würde es nicht viel besser gehen als mir, aber immerhin hatte auch er sich seine Lage selbst zuzuschreiben. Wie alle anderen hier.

„Man kann über Prangerstrafen denken, was man will, aber dies hier hat durchaus eine heilsame Wirkung.“ Siebels notierte sich etwas auf dem Klemmbrett, bevor er wieder an seinem Kaffee nippte. „Warnschussarrest, Erlebnispädagogik, kreative Strafen, das ist ja alles Quatsch.“ Ich war geneigt, ihm zuzustimmen; der Missetäter in seinem bunten Strampelanzug wand sich wimmernd auf dem Boden. Und noch war ihm nicht klar, dass das Studiopublikum auf der gegenüberliegenden Seite gerade zwei Dinge sah: seinen Auftritt und die Art, wie er selbst darauf reagierte. „Wir holen ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, ganz offiziell und im Auftrag des Justizvollzugs. Die Casting-Show, die an sich schon ihren Hauptzweck darin hat, fehlgeleitete Charaktere dem Spott der Menge auszusetzen, dies Instrument wird nun zu einem psychohygienischen Korrektiv. Kein Straftäter wird jemals wieder an die Öffentlichkeit gehen.“

Auf der anderen Seite humpelte der Jugendliche linkisch auf die Bühne, wo er ein paar unsichere Tanzschritte unternahm. Das Publikum feuerte ihn unerbittlich an. Sie hatten gerade gesehen, wie er gesehen hatte, was aus seiner Bewegungseinlage im ersten Durchgang wurde. Er hatte sich zuvor in diversen Talentsuchformaten angemeldet, das kam erschwerend hinzu. „Und das Ganze geht live über den Sender“, setzte Siebels hinzu, „aber das weiß er natürlich noch nicht. Er merkt es schätzungsweise nächste Woche. Das ist früh genug.“ Nochmals trank er einen Schluck Kaffee. „Und bevor Sie mir mit moralischen Einwänden kommen: sie arbeiten an einer Gesetzesnovelle. Ein Dschungelcamp für Politiker.“ Ich stutzte. Er leerte den Plastikbecher. „Für die, denen Amtseid und Verfassung nicht viel bedeuten.“