„Endlich! Ich dachte schon, Sie kämen gar nicht mehr!“ Der Aufnahmeleiter war schweißgebadet, und nicht nur das verwirrte mich. „Nun mal schnell rein hier“, kaute die Maskenbildnerin an ihrem Gummi vorbei, „Sie muss ich ja trockenlegen, bevor ich den Puder raushole.“ Wo war ich nur gelandet, und vor allem: warum? Und in welchem Programm würden sie das senden?
„Sie sind doch der Politiker, oder war’s ein Politologe? egal, Ihr Schlips passt gut zur Deko, Sie kommen links auf die Couch.“ Drinnen schoben die Beleuchter ein paar Kulissen hin und her, das Publikum übte Klatschen, wenn das rote Licht anging, und irgendwo musste auch die Moderatorin sich versteckt haben. Ich hingegen hatte den falschen Fahrstuhl genommen, den nämlich, der mich auf dem Weg von Doktor Bernstörffer, Kultur und angewandte Philosophie, direkt in die Tiefgarage fuhr, statt im Erdgeschoss zu halten. Ihn hatte natürlich nur mein Exposé der zehn neuen Folgen Kochen wie die Azteken interessiert – „Großartig, mein Lieber, ganz großartig, und wenn die Bilder zu teuer werden, machen wir ein halbstündiges Radiofeature aus dem ganzen Mist!“ – und nicht meine persönlichen Befindlichkeiten. Das war so in seiner Redaktion. Dafür hatte irgendjemand den Aufnahmeleiter im Stich gelassen, und jetzt stand er da. „Uns fehlt der Populist.“ Ich sah ihn verständnislos an. „Richtig, uns fehlt heute der Populist. Die da hinten ist die normale Tante, und der da im Kammgarnanzug ist so ein Kirchenfunktionär, der ist zwar konservativ, muss aber leider auch immer wieder für Frieden und Gerechtigkeit eintreten.“ Er grinste. „Den können Sie heute so richtig auseinandernehmen. Er hat seit mindestens sechs Stunden keinen Tropfen Alkohol mehr bekommen.“
„Was ist in unserer Gesellschaft los?“ Die Gastgeberin warf einige überflüssige Fragen in den Raum und eine Moderationskarte gleich hinterher. Die abgeklärte Oppositionelle wackelte mit dem Kopf, der nicht ganz aufgeklärte, aber nicht mehr amtierende Regierungsparteimann auch, aber in eine andere Richtung. „Meiner Meinung nach ist das eine Frage des Blickwinkels, und das wird man ja nicht als Ideologie abtun können.“ Immerhin, das Niveau würde nicht weiter sinken können. Ob man stattdessen dafür ein paar Löcher in den Boden stemmen würde?
Der Kammgarnanzug verkündete, dass er an sich schon für eine offene Gesellschaft sei, in der jeder auch machen könne, was er wolle, sofern dem Gesetz Genüge getan werde. „Aber wir wollen auch nicht vergessen, dass die Familie als Fundament der Gesellschaft für, ich möchte mal sagen, normale Menschen…“ „Sie und Ihr Schweineverein“, fauchte ich dazwischen. Der Moderatorin entfiel gleich ein ganzer Stapel Kärtchen, weshalb die Kamera hastig auf mich schwenkte. Voll im Bild. Genau das hatte ich gewollt. „Sie setzen sich hier in den medialen Mainstream und tun so, als ob das die öffentliche Meinung sei, aber da haben Sie sich getäuscht.“ „Mir hat noch keiner widersprochen“, nörgelte das Männchen. „Natürlich nicht“, schrie ich, „das ist ja auch die schweigende Mehrheit, gegen die Sie mit Ihrer Meinungsdiktatur angehen wollen, aber da haben Sie sich geschnitten. Das kriegen Sie hier nicht durch!“
Die Normaltante tendierte eher dazu, das als demokratischen Prozess aufzufassen. „Wir haben ja gar nichts gegen gesellschaftliche Strömungen“, informierte sie die Zuschauer, „ich kenne da beispielsweise einen Soziologen.“ Der Ex-Minister wollte das nicht gelten lassen, konnte ihre Meinung aber auch nicht als staatlich gelenkte Propaganda hinstellen; bis vor ein paar Wochen war er noch kein Ex-Minister gewesen. „Das ist durch zahlreiche Statistiken belegt“, beteuerte er. „Mir fällt hier nur gerade keine Zahl ein, aber mindestens dreiundsiebzig Prozent der Bevölkerung, und zwar aus allen Parteien, mehr als dreiundsiebzig Prozent sind genau dieser Meinung, und das ist die absolute Mehrheit.“ Beifall heischend blickte er um sich. Die Moderatorin hatte unterdessen ihr Kärtchen wieder aufgelesen und wandte sich mir zu. „Sie stellen in Ihrem neuen Buch die These auf, dass wir diese Entwicklung schon seit zehn Jahren ignoriert haben, und dass die Politik heute die Ergebnisse der damaligen Verfehlungen erntet.“ Ich richtete mich auf. „Genau das ist doch der Punkt“, ereiferte ich mich, „das wird ja auch viel zu selten in der Öffentlichkeit, und damit meine ich natürlich, dass wir da, wo wir keine Denkverbote, die darf es übrigens in einem Rechtsstaat gar nicht, und das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“
Was mich etwas überraschte, war das Publikum. Nicht, dass sie besonders anspruchsvoll gewesen wären, sie verhielten sich wie dressierte Lemminge. Bei jeder Gelegenheit leuchtete die Lampe auf, und sie klatschten ausgiebig. Eigentlich hätte ich mich langweilen können. „Man muss doch die Wahrheit aussprechen können!“ Wahrscheinlich wussten sie es nicht besser. Sie applaudierten schon wieder. Oder immer noch. Ich holte zum letzten Schlag aus. „Wir sind komplett gehirngewaschen, weil wir uns die ganze Zeit irgendeinen Dreck im Fernsehen ansehen müssen. Und zwar in überflüssigen Sendungen wie dieser hier.“
„Na, hat ja geklappt.“ Der Aufnahmeleiter war zufrieden, schließlich hatte die Sendung kurz vor dem Kollaps ihr natürliches Ende gefunden. „Machen Sie das eigentlich öfter?“ Ich ließ ihn wissen, dass ich dem hauseigenen Populisten auf keinen Fall den Job wegnehmen wollte. „Er wird alt“, sagte der Fernsehmann mit leisem Bedauern, „wir werden ihn an die Börsennachrichten abgeben müssen oder in die Programmkommission. Einer muss diese Meinungsdiktatur ja herstellen, bevor wir sie kritisieren, oder?“
Satzspiegel