Verraten und verkauft

14 05 2014

Die Dame an der Rezeption sah mich feindselig an. „Aber ich hatte doch mit Herrn Paulheinrichs telefoniert.“ Das schien sie nicht zu beeindrucken. „Kenne ich nicht, nie gehört.“ Ich zeigte ihr die Visitenkarte. „Wie gesagt, ich kenne den Namen nicht. Ich darf Ihnen auch nicht sagen, ob er hier überhaupt…“ Dabei kam er gerade mit einem Aktenordner unter dem Arm aus seinem Büro und stürzte auf mich zu. „Aber von mir wissen Sie das nicht!“

„Sie sind hier ja eingerichtet wie in einem Geheimdienst“, wunderte ich mich. Die Buchhalterin, die Paulheinrichs Papiere auf den Schreibtisch legte, trug einen Umhängebart. Ich mochte mich täuschen, aber nirgends war eine Steinigung zu hören. „Sie ist nur zur Tarnung in der Buchhaltung beschäftigt“, entschuldigte er sich, indem er die Papiere sorgfältig in den Schredder stopfte. Wahrscheinlich wäre es sonst jemandem aufgefallen, dass sie keine echte Buchhalterin war. „Sie arbeitet an einem sehr geheimen Projekt, da darf sie nicht auffallen.“ Ich wollte wissen, woran. Doch er schüttelte den Kopf. „Sie dürfen es mir nicht sagen?“ Wieder schüttelte er den Kopf, doch diesmal, weil er den Kopf schüttelte. „Ich kann nicht. Ich weiß es nämlich nicht, weil es nur ein paar Leute hier bei uns wissen dürfen. Ich nicht.“ „Und sie weiß es hoffentlich?“ Er seufzte. „Ich hoffe. Manchmal wissen das unsere Ermittler auch erst, wenn sie im Einsatz sind. Tarnung ist alles.“

Paulheinrichs war schon eine imposante Figur. Er sah so durchschnittlich aus, dass man ihm alles hätte zutrauen können. „Ich habe sehr erfolgreich als Supermarktkassierer gearbeitet“, bestätigte er, „und es ist niemandem aufgefallen, dass ich gar nicht kassieren kann.“ „Was mich interessiert“, hakte ich nach, „wie sind Sie Supermarktkassierer geworden, wenn Sie nach eigener Aussage keine Befähigung dazu hatten?“ „Ich arbeite nun mal als Undercover.“ „Sie mussten also Ihre Bewerbung frisieren?“ Er verzog ein wenig das Gesicht. „Wir haben uns Kopien von Arbeitszeugnissen verschafft und so eine Legende aufgebaut. Damit wurde ich im Supermarkt eingestellt.“ Ich erinnerte mich an die Story, die in seinem Buch Verraten und verkauft erhebliches Aufsehen erregt hatte. Er hatte aufgedeckt, dass viele Kassierer nicht ausreichend für ihren Job qualifiziert waren.

„Mein bester Mitarbeiter“, flüsterte er und zeigte durch die Glastür auf einen Putzmann. „Er ist investigativer Journalist, hat daher zehn Jahre lang als Taxifahrer und Klempner gearbeitet und war für einen Auftrag als Herzchirurg in einer Klinik.“ Ich sah ihn beklommen an, doch Paulheinrichs winkte ab. „Nur für Privatpatienten, Ihnen wäre also nichts passiert.“ Er drehte ein Blatt Papier um; darauf war ein Firmenschild abgebildet. „Von mir haben Sie das nicht. Aber genau da werden wir ihn ab nächste Woche einsetzen. Er wird alles herausfinden: die dreckigen Böden, Lärm, Abgase, mangelhaft geputzte sanitäre Einrichtungen.“ „Es handelt sich um eine Autowerkstatt“, gab ich lakonisch zurück. Paulheinrichs triumphierte. „Endlich haben wir es schwarz auf weiß, dann werden unsere Kritiker endlich mal Ruhe geben!“

Die Erfolge dieses Mannes konnten sich sehen lassen. Er ließ einen Sicherheitsfachmann auf dem Bierfest auftreten und filmte ihn heimlich, wie er heimlich die Betrunkenen filmte. In der Großküche deckte er auf, dass die Schnitzel vorgekocht werden und danach erst in der Pfanne landeten. „Immerhin waren wir die Ersten, die das gezeigt haben!“ Fast trotzig zog er die Stirn in Falten. Seit seinen Veröffentlichungen wussten wir nun also, dass in einer Wäscherei zentnerweise Bettlaken in große Kessel plumpsten und dass Friseure ihren Beruf zum größten Teil im Stehen ausübten, sich ständig in die Finger schnitten und den ganzen Tag lang mit Chemikalien zu tun hatten. „Außerdem dieser Psychostress!“ Paulheinrichs verdrehte die Augen. „Die Kunden erzählen einem da entsetzliche Sachen, und wir mussten uns das alles anhören. Stundenlang!“ Er war wirklich nicht zu beneiden gewesen.

Jetzt wollten sie eine Werbeagentur infiltrieren. „Wir haben uns schon die besten Leute geholt“, versprach er mir. „Einer unser Agenten, der war zwar auch noch nie in der Werbung, aber er weiß genau, was da abgeht.“ Ich nickte bedächtig. „Diese ständige Wochenendarbeit, die Nachtschichten, und dann diese bekloppten Kunden, die einem auf der Zielgeraden jede halbwegs sinnvolle Kampagne zerschießen, weil sie sie nicht kapieren.“ Er war irritiert. „Das heißt, es ist alles nicht…“ „Doch“, beruhigte ich ihn. „Alles stimmt, sämtliche Gerüchte. Dass sich manche Werber tagelang nur von schwarzem Kaffee und Bleistiften ernähren, das kann ich bestätigen. Viele gehen auch zwischendurch Golfen. Falls es nicht mit dem Termin für den nächsten Herzinfarkt kollidiert. Aber das wussten Sie ja sicher.“

Die bärtige Buchhalterin hatte noch einmal wortlos ein paar Papiere reingereicht, da zog Paulheinrichs unvermittelt ein Blatt aus dem Aktenordner. „Wir arbeiten da an einer ganz großen Sache“, zischte er mir zu, „absolut geheim! Top Secret! Wir warten nur noch auf den richtigen Zeitpunkt.“ Es handelte sich um einen Lageplan; zur Vorsicht war er jedoch nicht beschriftet. „Wir werden die Bundesregierung unterwandern“, gab er bekannt. „Wir werden da reingehen, wir werden alle Heimlichkeiten aufdecken. Alle! Dazu werden wir mit den besten Leuten zusammenarbeiten und…“ Er drehte das Blatt wieder um. „Sagen Sie mal, Sie kennen sich doch mit Politik aus?“