Gernulf Olzheimer kommentiert (CCXLI): Laufen

23 05 2014
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Was hat sich die Evolution nicht alles ausgedacht. Fliegende Fische, schwimmende Vögel. Was da noch fehlte, war ein Tetrapode, der aus mangelnder Einsichtsfähigkeit gepaart mit einer durchsetzungsfähigen Profilneurose seine Existenz auf den Hinterbeinen verbringt. Fortan jagte er Tiere, auf deren Speisezettel er laut offizieller Nahrungskette selbst stand. Und begann zu laufen. Was im Wesentlichen pure Notwendigkeit war, um nicht die Arterhaltung mangels Masse einstellen zu müssen, wuchs irgendwann zu einer komplett sinnfreien, im Wesenskern schädlichen, durchaus massenkompatiblen Beschäftigung, kurz: zu einer der beliebteren Sportarten, die den körperlichen Verschleiß individualisiert forcieren. Die Welt läuft, warum auch immer.

Der Beknackte schwiemelt sich bei ungünstigen klimatischen Bedingungen in funktionale, daher meist ästhetisch suboptimale Textilien und hastet schwitzend durch eine architektonisch nicht dazu geschaffene Umgebung, belästigt Unbeteiligte durch extravagant eingesprungene Überholmanöver an Fuß-/Radweg-Kombinationen und demonstriert seiner Mitwelt so, dass er von einem anderen Schlag ist: seht her, spricht seine Körpersprache, es ist die wunderbarste Bewegungsform, und ich bin etwas ganz Besonderes. Beispielsweise eine bekiffte Heuschrecke, die unter demonstrativem Geschnaufe an der roten Lichtzeichenanlage wie blöde weiterjoggt.

Auch wenn man es leider nicht sieht, dieser Bekloppte hat seinen Sport ganz für sich allein. Er lebt in seiner eigenen Welt, in der Hirnverödung durch rhythmisches Tippeln einwandfrei klappt. Der Gegner ist schließlich der eigene Körper, Maß aller Dinge sind Strecke und Uhr, kein Team und kein Sportgerät sind vonnöten, um diese Art der Muskelbeanspruchung ohne festes Regelwerk zu praktizieren. Wer Briefmarkensammeln eine Spur zu extrovertiert fand, wird sich mit dem Laufen gut arrangieren können.

Die andere Kategorie, die frei in der Landschaft herumdeliriert, franst aus in die Klatschläufer: vor lauter Eitelkeit platzende mobile Rampensäue, die zu schauspielerischer Brillanz finden, wenn bei öffentlichen Veranstaltungen die applaudierende Menge ihnen schmachtenden Beifall spendet. Gerade physisch unterbelichtete Zátopekkopien, die mit hängender Zunge wie Zombies in Zeitraffer über den Asphalt humpeln, um sich in theatralischer Heilandspose das Leibchen auf die Hühnerbrust zu krempeln, beeindrucken durch abwechselndes Anfersen und Kniehebeltechnik bis knapp unter die Kinnspitze. Meistens allerdings nur sich selbst.

Wie jeder Freizeit- und Breitensport ist auch das Rennen zu einer hochtechnologiegestützten Disziplin degeneriert, für die eine Habilitation und das Gehalt eines Aufsichtsrates gerade noch ausreichen. Allerhand gel- und luft- und von sonstigem Zeug gepolstertes Schuhwerk mit Sprungfedern, Seitenruder und Blinklichtern wird dem Jogger für seine tägliche halbe Stunde aufgedrängt – natürlich hat er sich aus Gründen der orthopädischen Nachhaltigkeit pro Wochentag je ein Paar anzuschaffen, das nach spätestens einem Jahr auszumustern ist, weil es den Pronationswinkel im Mittelfußbereich um ein halbes Grad abkippen lässt – was bei jedem hundertsten Läufer schon nach einem einzigen Ultramarathon zu leichtem Muskelkater führen könnte – und ansonsten nicht mehr modisch aussieht. Kein echter Nebenbeinurmi würde ohne glasfaserverstärkte, rutschfeste Socken in seine Schuhe steigen, die ihre ideale Ergänzung in transpirationsaktiver Membran findet, wahlweise als klassisches Shirt oder muskelsensitives Top. Des Sportsmanns Horror, in Baumwollkleidung eine aufgescheuerte Brustwarze zu riskieren, lässt uns fragend zurück, wie tausend Klempner ihr Tagwerk bewältigen, ohne dabei zu verbluten oder einen UV-bedingten Bräunungstod zu erleiden.

Die obligaten Presswurstbeinfleischkleider, die durchaus gegen Muskelschäden helfen können, haben der Trippelgilde manifestes Suchtpotenzial beschert, das nur durch Kompressionshosen, -strümpfe und diverse Bandagen zu stillen ist. Hier findet zusammen, was eh zusammengehört, und dank des Präventivrundumschlags sichern sich die Sanitätshäuser bereits ihre Stammkundschaft, bevor diese sich die letzten Knorpel weggescheuert hat. Immer schneller, ultraweiter, durch immer beschisseneres Gelände, auf Kontinenten, die nicht einmal zum Kriechen in Mannschaftsstärke geeignet sind, überall treten Läufer ihren Abdruck ins Gesicht dieses schuldlosen Planeten. Sie sind tiefenbeknackt, hetzen mit Gewichten und Sendern behängt ihrem Aufmerksamkeitsdefizit hinterher, um ihre mickerigen Ergebnisse ins Internet zu hieven, damit sie nicht nur beim Volkslauf in Eistadt an der Dotter und nicht nur von harmlosen Teenagern bejohlt werden. Sondern von uns allen, die nicht wegrennen können, weil uns immer einer auf den Fersen ist. Einer, der läuft.

Was sich aber auch irgendwann erledigt hat. Mit dem Schwinden der Scham, sagt Sigmund Freud, setzt der Schwachsinn ein. Oder Nordic Walking.