„Goethe!“ Der junge, grobschlächtig aussehende Kerl mit dem kahlrasierten Schädel wusste es ganz genau. Allerdings kam er schon beim zweiten Bild etwas ins Straucheln. „Goethe?“ Hömmler zeigte gleich das dritte, klappte den Aktendeckel um und wies den Prüfling aus dem Raum. Missbilligend schob er sich die Brille auf die Nase zurück. „Und so was will ein deutscher Nationalist sein.“
„Schelling hätte ich auch nicht unbedingt sofort erkannt“, bekannte ich. „Er hat eine starke Ähnlichkeit mit dem jungen Beethoven, finden Sie nicht?“ „Es ist doch egal“, antwortete der Prüfer. „Das war die dritte Runde, und er hält alles, was tot aussieht, für Goethe.“ Er zog verächtlich die Stirn in Falten. „Bei Hitler hätte er möglicherweise eine Ausnahme gemacht“, vermutete ich. Aber so ganz sicher war ich mir auch nicht.
Immerhin hatte ein neues Bundesgesetz nun die Aufnahme in rechte Volksparteien – manche hielten sich gar nicht für rechts, Volksparteien waren sie alle nicht – deutlich erschwert. „Was ein echter Nazi sein will, muss natürlich auch die theoretischen Grundlagen des deutschen Volkstums beherrschen. Ich meine, da könnte ja sonst jeder kommen.“ Ich nickte. „Stellen Sie sich mal vor, hier würden die ganzen polnischen und russischen Nationalisten einfallen.“ Er sah mich verständnislos an. „Wie kommen Sie gerade auf Russland?“ „Die würden den deutschen Nazis den Job wegnehmen.“
Der nächste Kandidat sah nicht besser aus. Die hochgekrempelten Hosenbeine – „Die haben offenbar alle Angst“, kommentierte Hömmler zwischendurch, „dass die Oder-Neiße-Linie plötzlich überschwappt.“ – staken in Kampfstiefeln, der Mann gab Selbstauskunft. „Ich bin ein aufrechter Deutscher“, kaute er hervor. Da auch etliche Affen das mit dem aufrechten Gang ganz gut hingekriegt hatten, war an der Einschätzung nicht viel zu bemängeln. Allein sie half nichts. „Wer wählt in Deutschland die Abgeordneten zum Bundestag?“ Er konnte sich nicht entscheiden, ob der dem Militär oder der Wirtschaft den Vorzug geben sollte. „Seien Sie nicht ungerecht“, wandte ich ein. „So ein bisschen sind doch beide Antworten richtig, oder?“ „Wir haben es hier aber mit einer idealtypischen Antwort zu tun“, berichtigte Hömmler mich. „Es geht schließlich auch um ideale Nazis.“
„Was ist die Aufgabe der Polizei in Deutschland?“ Er konnte lesen, auch wenn es ihm leichte Schwierigkeiten bereitete. Und selbst mir war die Antwort nicht ganz klar. „Die Bürgerinnen und Bürger abzuhören?“ „Es ist nur von der Polizei die Rede“, beharrte Hömmler. „Das Bundeskriminalamt wird mit keinem Wort erwähnt.“ „Interessant“, bemerkte ich, „auch hier wieder der idealtypische Zustand.“ Er räusperte sich. „Wenn es um die Polizei geht, fällt der meist mit der Realität zusammen. Es ist ja Deutschland hier.“
Jetzt wurde es spannend. Er drückte auf den Knopf unter der Tischplatte; rumpelnd entfaltete sich eine Landkarte. „Zeigen Sie doch mal Deutschland“, befahl Hömmler. Der Mann war durchaus auf dem rechten Weg, zumindest die Grenzen von 1937 hatte er schon überschritten. Etwas hilflos, aber sehr agil fuchtelte er zwischen der Ukraine und Bulgarien herum. „Da haben sich die Deutschen auch schon aufgehalten“, kommentierte ich trocken. Ihn schien das gar nicht zu stören. Inzwischen suchte er Leipzig, fand es aber in ganz Bayern nicht. „Sehen Sie es als gutes Zeichen“, ermunterte ich Hömmler. „Diese Generation wird nie einen Krieg anfangen. Sie haben sich schon verlaufen, bevor sie die Grenze überqueren konnten.“
Ich blätterte den Fragenkatalog durch. Es war tatsächlich dieselbe Sammlung, die man einbürgerungswilligen Ausländern vorlegte. „Was ja auch nicht ganz verkehrt ist“, bestätigte er. „Wer in dieses Land kommt, sollte vorab schon einmal die wichtigsten Gepflogenheiten kennenlernen.“ „Was“, mokierte ich mich, „ist so deutsch an der Tatsache, dass man mit Arbeitsstreitigkeiten vor ein Arbeitsgericht zieht? und schreckt man damit die Einbürgerungskandidaten nicht eher ab?“ „Die werden weder einen Job bekommen noch vor Gericht ziehen, wenn man den ihnen wieder nimmt. Man solle nur ein bisschen deutsche Kultur und Geschichte verstehen. Das ist ja kein Problem, wenn man ein paar internationale Medien zur Verfügung hat.“ „Verstehe“, überlegte ich, „nur so zur Kontrolle, nennen Sie mir doch mal drei ehemalige nepalesische Landwirtschaftsminister. Internationale Medien dürften Sie hier doch haben.“
Die nächsten beiden Prüflinge waren auch nicht besser, und Hömmler verlor langsam die Geduld. Vor allem ärgerte er sich über die immens hohe Ablehnungsquote. „Dass sie die Prüfungsgebühren nicht erstattet bekommen, das dürfte noch das geringere Übel sein. Aber unser Ruf ist ruiniert, wenn wir – “
Weiter sprach er nicht. Hömmlers Hände begannen unkontrolliert an zu zittern. Krampfhaft hielt er sich an einem Papier fest. Ich wollte lesen, aber sofort zog er es weg. „Ich habe da etwas verwechselt“, stieß er hervor. „Das ist gründlich schiefgelaufen.“ Mitfühlend sah ich ihn an. „Alle Fragen waren umsonst?“ Er schüttelte panisch den Kopf. „Nein“, sagte er heiser. „Aber wir sollten nur da einen Parteieintritt bewilligen, wo jemand durchfällt.“
Opernsänger dürften ja ganz problemlos in jene Parteien aufgenommen werden, haben sie doch meistens einen Ariennachweis.
Anonsten sollte man vielleicht doch vorab versuchen, die Landesgrenzen, wie im ameriknanischen Vorbild, erst einmal in gerade Linien zu ziehen, an denen man sich ausrichten kann. Und Berlin in die Mitte verlegen. Dann findet man das endlich auch mal. So als Nichtrusse. (Darf für manche auch wahlweise München sein)
Alternativ könnte man jedem Kandidaten einen Quadratmeter zur Verfügung stellen, links, rechts, vorne und hinten zwei Meter Wand (vom Boden aus gemessen), und sie damit trösten, dass alles, so weit sie sehen, Deutschland ist.