Das letzte Hemd

4 06 2014

„Ich habe das noch letztes Jahr getragen!“ Er stellte sich ein bisschen an, aber im Grunde war sein Widerstand zwecklos. Frau Breschke hatte den neuen Kleiderschrank bereits bestellt, die Stange war um gut einen Meter kürzer, und irgendwo musste man den Platz ja einsparen. Warum also nicht an den Hemden des alten Herrn?

„Aber ich habe das noch im vergangenen Herbst – nein, das muss im Frühjahr, weil da unsere Tochter im Urlaub war, und sie hatte es da gefunden, und es passte sogar.“ Das Hemd hatte ein sehr auffälliges Blumenmuster, nicht gerade ohne jeden Geschmack, aber man kann ja auch den Karneval sehr stilvoll begehen. „Wir müssen nun mal aussortieren“, mahnte ich ihn. „Wenn Ihre Frau nachher vom Friseur kommt und nichts findet, wird sie sicherlich sehr enttäuscht sein.“ Er bockte; aber was blieb ihm übrig, er musste für das neue Möbel einfach ein paar Hemden opfern. „Sie will, dass ich alles aussortiere, was ich nicht mehr trage.“ Horst Breschke, auch in fortgeschrittenem Alter immer noch ein modebewusster Mann, fühlte sich im Innersten getroffen. „Lassen Sie uns die Sachen einfach mal durchgucken“, riet ich, „vielleicht geht auch alles ganz schnell.“ „Also das“, verkündete er und hielt ein ehemals weißliches Oberhemd gegen das einfallende Licht des Schlafzimmerfensters, „das behalte ich auf jeden Fall!“

Wenn ich lange zurückdachte, und es handelte sich wirklich um viele Jahre, dann hatte ich den pensionierten Finanzbeamten nur in zweierlei Gewandung gesehen: in einem gilbweißen Oberhemd mit einer braunen Strickjacke (dies im Herbst und Winter) und in einem gilbweißen Oberhemd, teilweise mit hochgekrempelten Armen, und darüber anfallsweise einer brauen Strickweste (im Frühling und im Sommer). Ein historisch zu nennender Fleck von Tomatenmark, der bei einem Gartenfest von Doktor Klengel entstanden war, hatte in mir den Verdacht aufkeimen lassen, dass Breschke überhaupt nur eine Strickweste besaß, und ich war mir nach nur zwei Jahren intensiver Beobachtung vollkommen sicher, dass es sich um diesen Sachverhalt handelte. Der Fleck blieb. Und ich hatte keine Anhaltspunkte, dass sich der Alte alle zwölf Monate eine identisch aussehende Strickweste besorgte, sie nach Vorlage mit einem rötlichen Schimmer über der rechten Tasche versah und sie an der Rückseite eben merklich blank rieb. Allein dies ließ mich mehr oder weniger kalt; was mir weitaus mehr Kopfzerbrechen verursachte, war die Frage, ob man diesen Gilbton als Neuware bekäme oder ob Breschke diese Hemden in mühsamer Kleinarbeit im Keller präparierte. Ob er sie bei gymnastischen Übungen einschwitzte und mit chemischen Stoffen artifiziell altern ließ, um selbst darin so alterslos auszusehen?

Es gab eine Menge dieser Urlaubssouvenirs, und keines wollte er wirklich aufgeben. „Das hier hatte ich neulich noch in der Hand“, grübelte er. Offenbar war seine Frau klug genug gewesen, ihm das rosa Textil mit dem auffälligen Papageiendruck vor dem Gang in den Heimwerkermarkt wieder auszureden. Sein Herz hing nicht an den Kleidern, er konnte sich nur nicht von ihnen trennen. „Wenn nun meine Tochter uns besucht“, begann Breschke, „und wir laden sie zum Essen ein – Sie wollten doch immer mal, dass wir Bücklers Landgasthof besuchen, weil sie diese neue Terrasse haben, und dann trage ich vielleicht einmal eine neue Hose, und was ziehe ich dann an?“ „Lieber Freund“, sprach ich auf ihn ein, „Ihre Tochter hat Sie im letzten Jahr ein halbes Dutzend mal besucht, davon waren Sie dreimal mit ihr aus, und Sie haben stets eins Ihrer – “ Ich wies auf die Reihe der ehedem hellfarbigen Kleidungsstücke, die obligate Weste nicht eingerechnet. Dass er sich offensichtlich seit Jahren keine neue Hose gekauft hatte, und wenn, dass es ebenfalls ein braungraues Beinkleid aus Breitcord gewesen wäre, das er zu Gartenarbeit wie zur Gartenparty trug, ließ ich besser unerwähnt.

„Haufen“, seufzte ich. „Machen wir einen Haufen.“ Er guckte. „Sie sortieren alles aus, was Sie noch behalten wollen.“ „Das hier, das kann man mal zu der blauen Krawatte, die finde ich noch.“ Der Stapel wuchs behende. „Und das hat so ein interessantes Muster, finden Sie nicht auch?“ Nie hätte ich gewusst, dass er so ein inniges Verhältnis zu seinen Hemden gehabt hätte. „Das kann man doch wirklich nicht mehr tragen, das sieht aus wie eine…“ „Das ist die Lieblingsfarbe meiner Frau“, stellte Breschke fest. „Ich wusste gar nicht, dass sie auf Giftgrün steht?“ Er musste es überhört haben, denn schon war er wieder zwischen Hemdsärmeln verschwunden. Eins nach dem anderen reichte er mir heraus. Schließlich hockte er sich schnaufend auf die Bettkante. Zwei monströse Berge zerknitterter Hemden umrahmten ihn. „Ich brauche erst einmal eine Tasse Kaffee“, stöhnte der Alte. „Kommen Sie mit?“

Frau Breschke war pünktlich. „Es ist noch Kaffee in der Maschine“, informierte der Gatte sie, die Bismarck das Köpfchen streichelte und dann die Treppe hinaufstieg. „Ich habe schon sortiert“, rief er vergnügt, „und ich würde einen Birnengeist nehmen, schließlich haben wir Besuch.“ Von oben ertönte Zustimmung; schließlich war bis zum Liefertermin um halb drei fast alles erledigt.

Bismarck schnüffelte interessiert an meinem Hosenbein, während Frau Breschke die Geranien auszupfte. „Horst ist ein wenig verärgert“, klagte sie, „er hat sich im Keller eingeschlossen und räumt auf.“ Der Dackel sah zu mir herauf, wäre mir gerne zwischen die Füße gelaufen (als dümmstes Tier seiner Gattung beherrschte er nicht viel mehr, dies aber mit hinreichender Perfektion), allein das Gartentor zwischen uns vereitelte diesen Plan. „Und ich habe mich strikt an seine Anweisungen gehalten“, klagte die Hausherrin. „Nur die Hemden, die er herausgelegt hat – seine weißen, die zieht er sowieso immer an, da wäre ich nie drangegangen, aber nur die anderen, wirklich!“ Sie war geknickt. „Trösten Sie sich“, sprach ich ihr zu, „das wird wieder. Ihre Tochter kommt doch bald wieder aus dem Urlaub zurück?“