„Ich gehe da nicht raus!“ Rote Flecken steigen an Heidis Hals auf; hektisch knüllte sie eine Serviette zusammen, als wäre es der Hals von Generalkonsul Pinkelstein. „Chef, Sie können mich auf der Stelle kündigen, aber ich werde da nicht rausgehen!“ Und Hansi wusste nicht, was er tun sollte.
„Ich kann ihn nicht einfach vor die Tür setzen“, überlegte er, „anderseits, ich würde dieses dumme Schwein am liebsten…“ „Na“, mokierte sich Anne, „geben wir uns doch keine Blöße. Das muss doch anders zu lösen sein.“ Sie hatte gut reden. Hansi, der Jüngere der beiden Bückler-Brüder – Bruno, den man als den Fürsten Bückler im Landgasthof schätzte und verehrte, führte das Regiment in der Küche, während der andere dem Service vorstand – konnte nicht gut einen Skandal verursachen, doch galt es als ungeschriebenes Gesetz, dass man als Gastronom, der auf sich hält, diesen Kerl nicht am Tisch duldete. „Und Ihr könnt ihn nicht loswerden?“ „Ich mache das jedenfalls nicht“, schluchzte Heidi.
Manche hielten es nur für ein böswilliges Gerücht, aber ich hatte es selbst erlebt: nicht einmal die Imbissbuden der Stadt ließen den hochnäsigen Poltergeist noch eine Bratwurst verzehren. Nahte er sich, bedachten sie in mit Titulierungen, neben denen sich sein tatsächlicher Name geradezu hübsch ausnahm. „Er ist ein Ekelpaket“, befand Hansi. „Stell Dir alles vor, was Du als Kellner an einem Gast hassen könntest. Stell es Dir schlimmer vor. Und dann kommt Pinkelstein.“ „Er ist nie mit etwas zufrieden“, erklärte ich, „er dreht Dir das Wort im Mund herum und behandelt Dich wie den letzten Dreck, und es lebt kein Mensch, der bezeugen könnte, dass er je ein Trinkgeld gegeben hätte.“ „Und man kann da gar nichts machen?“ Anne zog die Stirn in Falten. „Wie weit kann man gehen?“ „Wir beseitigen die Reste gerne morgen mit dem Nasssauger“, knurrte Hansi. „Sehr gut“, frohlockte sie und knöpfte sich den Krangen zu. „Seit meiner Studienzeit habe ich nicht mehr gekellnert, aber es geht schon.“ Sie reichte mir eine Speisekarte. „Los, lass Dir etwas einfallen. Wir spielen mit gezinkter Karte.“
Pinkelstein äugte hochnäsig ins Menü. „Und dieses Filet Pompadour?“ „Bretonisches Salzwiesenlamm“, erklärte Anne. „Wir reichen dazu Crème Chahut und Pommes Plonplon an einer Farce de farce.“ „Ich habe nie etwas davon gehört?“ Sie sah ihn mit aller Herablassung an. „Davon war ich ausgegangen.“ Man sah, wie er schluckte. „Es handelt sich um Kartoffeln, wie der Name schon sagt.“ Hansi biss sich auf die Zunge. „Unglaublich, das hätte ich mich nie getraut!“ „Du bist ja auch morgen wieder hier“, grinste ich, „sie hockt wieder in ihrer Kanzlei.“ Unterdessen hatte Pinkelstein sich für einen Wein entschieden. „Wir haben den eigentlich nur für Touristen und Leute, die nur über beschränkte finanzielle Mittel verfügen.“ Er schnappte zurück, doch Anne ließ nicht locker. „Ein Gurbesheimer Knarrtreppchen wäre angemessen für den Loup de Charlemagne en Trou-du-cul. Ihre Sellerieschnitze wollen Sie wie?“ Er stutzte. „Ihre Sellerieschnitze!“ Anne trommelte mit den Fingern auf dem Schreibblock. „Wir haben den ganzen Tag Zeit, aber zwischendurch schließt die Küche. Ihre Sellerieschnitze?“ Heidi war sprachlos. „Mach das nie an einem normalen Gast“, ermahnte ich sie, „dann wirst Du tatsächlich gefeuert.“ Anne verlor unterdessen sichtbar die Geduld. „Roh, sehr roh, bien cuit, medium, medium rare, modéré, allegretto, fratze, hacke, peng?“ „Ich äh“, stotterte Pinkelstein. „Blanchiert“, beschloss Anne, klappte die Karte mit einem Knall zusammen und drehte sich auf dem Absatz um.
Die Küche hatte auf die Schnelle ein paar Fischreste auf dem Teller drapiert – Petermann reichte die Portion mit versteinerter Miene raus und Anne trug ihn unverdrossen zu Pinkelsteins Tisch. „Das sieht aus wie durchgedrehte Seeschlange“, ätzte er. Anne lüpfte nur kurz eine Braue. „Schön, was Sie schon alles gegessen haben.“ Doch er war noch nicht zufrieden. „Ich wollte keinen Reis dazu, sondern Kartoffeln, wie sie auf der Karte standen.“ Anne zog das Menü nochmals hinter dem Rücken hervor. „Sie können gerne noch einmal nachlesen.“ Der Loup de Charlemagne stand natürlich mit Butterreis darauf, die Tinte trocknete gerade. „Und richten Sie dem Koch aus, er kann nicht mit Gemüse umgehen!“ Petermann ballte die Faust. „Warte, ich geb Dir…“ Doch Anne war schneller. Im psychologisch richtigen Moment lüpfte sie den Teller und ließ den Gast zurück. „Stufe zwei“, zischte sie und stellte das Arrangement auf den Tresen, „jetzt kochen wir den Alten ab.“
„Ich bin immer wieder erstaunt, was sich in Deiner Küche auftreiben lässt.“ „Fürs Personal“, entgegnete Bruno knapp und schob den Teller mit dem kalten Dosengulasch auf den Tisch. Petermann träufelte etwas Tabasco darüber. „Das dürfte reichen“, mutmaßte er, und er sollte recht behalten. Der Generalkonsul tobte. „Das kann ich nicht essen“, schrie er, „das ist eine Frechheit!“ „Dann sollten Sie in Zukunft besser von der Karte bestellen“, entgegnete Anne und legte ihm das offizielle Verzeichnis vor. „Ihre Extrawünsche sind weder geistreich noch originell.“ „Jetzt“, flüsterte Hansi und zog die Küchentür auf. Ich schritt in gemessenem Tempo durch die Gaststube, hier und dort ein Nicken andeutend, bis ich wie zufällig an Pinkelsteins Tisch anlangte. „Das ist ja wohl eine Unverschämtheit“, schrie Anne. Die Gäste zuckten zusammen. „Gibt es ein Problem hier“, säuselte ich, „der Herr wollte uns verlassen?“ Er rang nach Luft. „Sie sollten es wirklich tun“, riet ich ihm. „Sonst haben wir morgen Pinkelsteiner Eintopf auf der Karte.“ Der Konsul schmiss die Serviette auf den Tisch und stampfte durch den Saal.
„Gut, dass die Teller nicht so voll waren.“ Anne löste den Schürzenknoten. „Aber was ich schon immer mal wissen wollte: wie schmeckt eigentlich durchgedrehte Seeschlange?“
Satzspiegel