Sanfte Gewalt

3 07 2014

„Womit habe ich Dich verdient?“ Anne schnaubte. Ich hätte die Frage auch ganz anders verstehen können. Schmeichelhafter. Aber ihr war nicht nach Schmeicheln. Mir auch nicht. Noch weniger als Anne. Schließlich musste ich auf sie aufpassen, und das schon seit zwei Tagen. „Es ist ja nur noch heute“, tröstete ich sie. „Du wirst sehen, wenn Du Dich ein bisschen zusammenreißt, vergeht die Zeit wie im Flug.“ Was bei einem Anti-Aggressions-Training durchaus von Vorteil war.

„Ich möchte wirklich wissen, warum sie mir Dich als Coach an die Seite gestellt haben.“ „Ich denke“, antwortete ich, „sie waren von meinem guten Einfluss auf Dich überzeugt.“ Sie zog die Stirn in Falten. „Immerhin bin ich vollkommen ruhig geblieben“, fügte ich ungerührt an. „Du hast den Kellner angegriffen, ich habe mich so gut wie gar nicht bewegt.“ „Aus Angst“, fauchte Anne. „Weil Du Angst hattest, ich würde Dich auch…“ Sie biss sich auf die Zunge. „Vorsicht“, mahnte ich. „Ich werde noch den ganzen Tag lang auf Dich aufpassen, und ich muss ja hinterher auch den Fragebogen ausfüllen, und dann ist da auch noch die Anhörung.“ Sie stampfte energisch auf. „Wenn Du gedacht hast, ich würde wieder zu diesem verdammten Italiener gehen – vergiss es!“

Anne ist eine begnadete Juristin und als solche eine Strafverteidigerin von herausragendem Ruf. Was die Sache nicht einfacher macht, denn sie ordnet die Welt in viele Sachverhalte, die sich ihrer Ordnung widerspruchslos zu fügen haben. Was nicht passt, wird mit sanfter Gewalt in die kleinen Schubfächer mit ihren jeweiligen Paragrafen gelegt oder gedrückt. Meistens gedrückt. Und meistens nicht sanft.

„Ich werde definitiv nicht in ein Restaurant gehen, weil ich erstens keinen Hunger habe, und zweitens kann ich in dieser Jacke nicht vorteilhaft sitzen. Außerdem will ich mir nicht den Appetit verderben für heute Abend.“ Ich blätterte kurz in meiner Liste. Wir hatten bereits dem Kaufhaus einen Besuch abgestattet, wo Anne mit dem Erwerb einer matt getönten Tagescreme bis knapp vor eine Hirnembolie geriet. Eine Verkäuferin war ihr dabei behilflich gewesen, bei der Embolie mehr als mit der Kosmetik. „Wenn Du mich jetzt noch in ein Schuhgeschäft schleppst, dann breche ich die Sache einfach ab und sage ihnen, dass Du mit seelischer Grausamkeit vorgegangen bist.“

Der Berater war wirklich zuvorkommend. „Dies Modell wird gerne genommen“, bestätigte er, „aber Sie als Kennerin werden sicher nicht auf die kleinen Extras verzichten wollen.“ Anne kam gar nicht zu Wort. Er war sichtlich in seinem Element. „Dieses Gerät hier verfügt über eine patentierte Hochleistungsbrühgruppe, die über eine sensorgesteuerte Vorwärmautomatik jede einzeln zubereitete Tasse zum Frischegenuss werden lässt.“ Natürlich wusste er, dass es sich um eine Bürokaffeemaschine handeln sollte, und natürlich hatte sie ihm den Preisrahmen für die Anschaffung klar genannt: so billig wie möglich. „Das Zeug kriegen Mandanten und Referendare“, erklärte sie, „und Sie holen mir jetzt dieses Ding da in Chrom aus dem Schaufenster, bittedanke.“

Üblicherweise wäre hier Schluss gewesen, aber Anne blieb erstaunlich ruhig. Mag sein, dass ich etwas bohrend blickte. Oder dass das doch recht konziliante Lächeln des Verkäufers sie verstummen ließ. „Wenn Sie ein metallicfarbenes Gehäuse wünschen, kann ich Ihnen zu diesem Duo-Gerät raten.“ Er wies elegant auf einen mittelgroßen Schrank hin, unter den zweifelsohne gleich zwei Kaffeetassen passen mussten. „Dieser Automat bereitet neben den üblichen Kaffeespezialitäten auch frischen Milchschaum zu, den Sie mühelos aus dieser Dosierdüse entnehmen.“ Mit einer leichten, schwungvollen Handbewegung verlieh er dem Ding einen gewissen Charme. Obwohl der Klotz eher aussah wie etwas, das man in einem altmodischen Café erwarten würde. „Ich will das nicht“, begehrte sie auf. „Ich will ganz einfach diesen kleinen Automaten dort, und das bitte im Chromgehäuse.“ „Der schafft aber nur acht Tassen“, wies der Haushaltsexperte lächelnd hin, worauf sich Annes Gesicht merklich verzog. „Ihr Schrankkoffer da kann immerhin zwei, was?“

Sie hatte es fast geschafft, denn der Verkäufer war sichtlich verwirrt; Anne hatte ihn bei einer kleinen logischen Nachlässigkeit ertappt und konnte in aller Ruhe zusehen, wie er sich wand. „Ich werde Ihnen die Maschine aus dem Lager holen“, kündigte er an. „Wir haben noch eine in der Originalverpackung mit Aromafrischkanne.“ „du siehst, es geht.“ Stolz sah sie mich an. „Man muss mit den Leuten nur mal vernünftig reden“, bestärkte ich sie. „Wenn sie es denn zulassen“, brummte Anne zurück. Da kam auch schon der Händler. „Bitte sehr. Gute Wahl, mein Glückwunsch. Für eine Dame sind diese anderen Geräte wohl auch etwas zu kompliziert.“

„Die Geschenkverpackung wäre nicht nötig gewesen.“ Stolz trug Anne ihre neue Maschine zum Auto. „Immerhin hast Du den Test bestanden“, sagte ich. „Du hast ihm hinterher sogar ein Papiertaschentuch gereicht. Ich werde das als deeskalierendes Verhalten vermerken.“ Sie stellte das Paket in den Kofferraum. „Und jetzt würde ich sogar einen Espresso nehmen. Vorausgesetzt, Du traust Dich mit mir noch zum Italiener.“