„Frau von Witzleben wird gleich für Sie da sein.“ Es war angenehm kühl in der Halle, also würde mir das Warten nicht viel ausmachen. Der Angestellte deutete eine leichte Verbeugung an. „Hübsche Krawatte übrigens.“
Das Lehrinstitut erweckte den Eindruck einer außerordentlich modernen, außerordentlich prächtig gebauten Volkshochschule; hinter der klaren Fassade aus Stahlstreben und Glasflächen verbarg sich mehr schlecht als recht der verstaubte Kern, den ich dem Prospekt entnommen hatte. Man konnte hier alles lernen, vielmehr: man bekam die nötige Unterstützung, wenn man lernen wollte. „Ich sehe, Sie warten gerade?“ Der junge Mann vollführte eine einladende Geste. „Und Sie sind?“ „Goldbeck, IT-Trainer.“ „Ich dachte es mir“, antwortete ich beiläufig. „Ihre Frage war absolut präzise und ganz auf die eigene Perspektive hin formuliert, und Sie haben keinen Zweifel daran gelassen, dass die Antwort Sie nicht im Geringsten interessieren würde.“ Er schluckte. „Arbeiten Sie auch hier?“ Vermutlich hatte ich ihn nachhaltig aus dem Konzept gebracht, denn er musste in der Zwischenzeit einen Stock verschluckt haben. „Nein“, gab ich gelangweilt zurück, „ich kann mich bremsen. Ich warte nur auf Ihre Chefin.“ Erleichtert richtete er sich auf. „Dann werde ich schauen, ob sie bereits benachrichtigt wurde. Hübsche Krawatte übrigens.“ Und so schnell, wie er erschienen war, war er auch wieder verschwunden.
Frau von Witzleben ließ bitten. „Ich bitte um Entschuldigung“, sagte sie mit einem sorgfältig aufgesetzten Lächeln. „Sie sind manchmal ein bisschen übermotiviert, aber das gehört wohl zum Berufsbild dazu.“ Hinter der Glastür übte eine Gruppe von Männern in schwarzen Anzügen, sich betont lässig auf Stühle zu setzen. „Unsere Fachkraft Frau Schippendehl unterrichtet neben den sportlichen Klassen inzwischen auch allgemeines Körperbewusstsein.“ Dem unbeholfenen Verhalten entnahm ich, es musste sich um angehende Führungskräfte im mittleren Management handeln. Sie nickte. „Gut beobachtet. Lassen Sie uns mal einen Blick darauf werfen.“
„Bitte die Beine nicht wieder so hektisch übereinanderschlagen. Ja, so ist es sehr gut!“ Die Kandidaten waren ungeheuer locker und elegant, schwitzen allerdings kontrapunktisch; die Angst voreinander füllte den Raum wie Bodennebel. Frau Schippendehl musterte mich. „Sie müssen noch sehr lange an Ihrer Körperspannung arbeiten, bis Ihnen der Chef eine Beförderung anbietet.“ Frau von Witzleben musste eine besonders spannende Stelle im Teppich entdeckt haben. „Danke der Nachfrage“, gab ich zurück. „Sie unterrichten also überwiegend Kunden, die noch nicht einmal wissen, dass man sein Pferd an der Garderobe abgibt?“ Sie war irritiert. „Ich meinte den breitbeinigen Gang, aber das täuscht sicher.“ Frau von Witzleben zischte etwas in Richtung der Lehrerin, aber ich hatte mich schon umgedreht.
„Jeder hat heute einen Trainer.“ Die Leiterin korrigierte sich sofort. „Fast jeder, meinte ich. Weil ja auch fast jeder einen nötig hat.“ Gegenüber sah man eine Mischung aus Hauswirtschaft und Psychotherapie; Opfer der schlechten Ernährung bekamen beigebracht, wie man einen Einkaufszettel schreibt, ohne dass die Hauptzutaten aus Süßwaren und Fett bestanden. „Es geht Ihnen also um die Haltungsnoten, richtig?“ „Natürlich kann sich jeder Mensch selbst etwas ausdenken, um abzunehmen, aber die meisten brauchen doch Unterstützung. Wir gehen also ganz individuell auf die Kunden ein und geben ihnen Hinweise, wie sie die Tipps unserer Trainer in ihren Alltag integrieren können.“ So hatte das Programmheft auch ausgesehen. Training war für diese Unternehmerin die Fortsetzung der Verhaltenstherapie mit anderen Mitteln. „Sie können alles lernen, wenn Sie nur wollen.“ „Ich verstehe.“ Sie machte es mir aber auch leicht. „Es liegt demnach immer an mir selbst, wenn ich etwas nicht schaffe.“
Im Einzelunterricht putzten die Eleven Fenster und lernten umweltschonendes Fahren. Sie dekorierten Beistelltischchen mit Seidenblumen und entwickelten einen Geschmack dafür, warum man zu einer grauen Hose keine braunen Sandalen mit grauen Socken trug. „Unser Angebot spiegelt nur den Bedarf wider“, verteidigte sich Frau von Witzleben. „Die meisten Menschen haben ein größeres Manko, das ihnen die erfolgreiche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben schwer werden lässt. Hier setzt unser Konzept an, wir vermitteln passgenau die Kenntnisse, die man braucht, um ganz an der Spitze zu stehen.“ „Und wenn sie an der Spitze stehen?“ Sie begriff nicht gleich. „Was soll dann sein?“ Ich half ihr ein. „Dann stehen also alle an der Spitze.“ „Dann können sie sich aber immer noch weiter verbessern, und deshalb wächst natürlich auch unser Angebot, weil wir ja ständig…“
„Und Sie?“ Frau von Witzleben lächelte nochmals sorgfältig ausgesucht. „Ich bin ja hier die Cheftrainerin.“ „Und Sie trainieren wen?“ Ich hätte es mir denken können, aber sie bestätigte es mir. „Ich trainiere die Trainer. Damit sie bessere Trainer werden.“ „Und was sind sie jetzt?“ Sie schwieg. Ich wandte mich zum Gehen; hier würde es nichts mehr zu tun geben. Nur einmal noch drehte ich mich um, kurz vor dem Fahrstuhl. „Hübsche Krawatte übrigens.“
Satzspiegel