Dingsheim an der Bumse

1 09 2014

Hülsenbeck war die Sache sichtlich unangenehm. Anne war es ebenso unangenehm, dass die Sache für Hülsenbeck unangenehm war. Ich legte meinen Mantel zusammen und gab ihn an der Garderobe ab. Die besten Voraussetzungen, um einen wirklich angenehmen Abend zu verbringen.

„Ich weiß auch nicht, woran es liegt.“ Anne war wie immer die Ruhe selbst, während sie sich die Knöpfe an ihrem schwarzen Jäckchen abdrehte. „Diese schlechten Manieren, dieses unleidliche Gesicht, ich weiß nicht, warum er überhaupt mitgekommen ist.“ Ich warf einen kurzen Blick auf den Sitz meiner Krawatte. „Weil es ihn nichts kostet. Und seien wir mal ehrlich, es ist doch gut, wenn er seinen Charakter gar nicht erst zu verbergen sucht.“ Max Hülsenbeck, seiner eigenen Einschätzung nach einer der besten Staatsanwälte im weiten Umkreis – man hatte ihn sicher seit Jahren nicht befördert, um so eine begnadete Fachkraft nicht zu verlieren – wirkte etwas nervös. „Schön, dass Sie meine Einladung angenommen haben.“ Er biss sich auf die Lippe. „Das heißt, Sie sind ja nur die Begleitung meiner Begleiterin. Also benehmen Sie sich entsprechend.“

Vor zwei Wochen hatte Anne euphorisch verkündet, sie und Max würden in eine hübsche Maisonettewohnung am Mühlbachgrund ziehen; zwei Tage später ließ sie auf seine Kosten den Kurierdienst ein Paar Socken zu ihm transportieren mit der rechtsverbindlichen Auskunft, sie nie wieder zu behelligen. Inzwischen ist ein längerer Winterurlaub in den Seealpen geplant. Mit etwas Glück lebt einer von ihnen dann noch, und ich würde nicht auf Hülsenbeck tippen. Dieser jedoch witterte angesichts der Verlobung der Tochter von Staatsanwalt a. D. Husenkirchen seine Chance, vielmehr: er überzeugte Anne davon, dass er überhaupt eine haben würde. Durch einen kleinen Lapsus war Anne einerseits als meine Begleitung, andererseits als Freundin des Hauses doppelt eingeladen. Als über den Dienst hinaus korrekter Jurist, der Husenkirchen nun mal ist, stand eine Wiederaufnahme des Einladungsverfahrens nicht zur Debatte; Hildegard hatte keine Zeit, Anne wollte die Einladung nicht verfallen lassen, so ließ sie sich überreden, Max mitzunehmen. „Er muss nur ein paar Leute treffen“, sagte sie beschwichtigend. „Möglicherweise hilft das seiner Karriere auf die Sprünge.“ Ich war nicht dagegen. Es würde ihm nicht helfen, konnte aber auch nicht schaden. Zumindest nicht, dass ein paar Leute ihn träfen, die bisher nur von ihm gehört hatten.

Die Runde der illustren Strafrechtler stieß gerade auf das Wohl des jungen Paares an. Husenkirchen begrüßte Anne korrekt, während Hülsenbeck bei der Tochter schon zum Handkuss ansetzte. „Blamier mich nicht“, zischte Anne. Er sah sich irritiert um. „Vermutlich wird er sich erst den Schwiegersohn vornehmen“, witzelte ich. Anne betrachtete konzentriert das Parkett.

Die Stimmung wollte nicht recht steigen. Max drängelte sich hinter mich und bat eine Spur zu laut, dem Gerichtspräsidenten vorgestellt zu werden. Ich drehte mich langsam um. „Warten Sie, bis Sie an der Reihe sind.“ Gesellschaftliche Konventionen schienen nicht sein Terrain zu sein. Landrichter Uthgenannt, der dem Standardscherz über seien Familiennamen eine neue Variation hinzufügte, bemerkte es mit einem Anflug von Missbilligung, hatte aber wohl gleichzeitig Mitleid. Er reichte Max ein Glas, das dieser bereitwillig ansetzte.

Uthgenannt brach schließlich das Eis. „Sagen Sie“, soufflierte er, „Sie sind doch ein weit gereister Mann, auch was die Weine angeht – gibt es in Ihrer Nähe nicht dieses kleine Fischlokal, wo man von der Terrasse in den Burggraben hinunterblickt?“ „Sie meinen Bad Salzschlürf“, unterbrach ihn ein vorlauter Assessor. Ehe ich eingreifen konnte, straffte sich Hülsenbecks Brust. „Richtig“, nickte er, „an Bad Salzschlürf habe ich nämlich die besten Erinnerungen, Sie müssen wissen, dass mein Vater in der Gegend geboren wurde.“ „Ich wusste gar nicht“, erstaunte sich Husenkirchen, doch Max war bereits in voller Fahrt. „Wir stammen ja in zehn Generationen aus dem Rheinland, nur meine Eltern sind in den Norden gezogen.“ Er blickte mich mit gekünstelter Kameraderie an. „So haben wir uns ja auch kennen gelernt.“ Ich nickte. „Ein Seminar in Bad Mahlentee.“ Uthnenannt suchte etwas in seinem Kopf, ich wusste ungefähr, was es sein könnte. „Eine famose Gegend zum Segelfliegen, und Golf spielen kann man da auch ganz passabel.“

Anne war im Gespräch mit Husenkirchens Tochter. Sie zeigte auf etwas in der Nähe von Max’ Hinterkopf. Sicher kniff sie nur aus Zerstreutheit ein Auge zu.

„Dann ist da diese spätgotische Kleinbasilika“, überlegte ich, „wie hieß die noch?“ Max schaute angestrengt. „Die Sankt-Dingens-Kirche, wenn ich mich nicht täusche?“ „Bestimmt“, plapperte er, „ein sehr imposanter Bau, mindestens aus dem 15. Jahrhundert.“ Uthgenannt und der Assessor knirschten hörbar mit den Zähnen. „Ein wundervolles Licht, wenn ich mich recht erinnere. Sie waren auch mehrmals da?“ Hülsenbeck war mehrmals da gewesen. „Es war im Sommer, als die vergoldete Mutter Gottes ausgestellt wurde, eine Stiftung der hiesigen Schraubenmanufaktur.“ „Wundervoll“, bestätigte er. „Einzigartig!“

„Wo ist übrigens Max“, fragte Anne, während sie der Gattin des Assessors unter dem Siegel der Verschwiegenheit verriet, dass Husenkirchens künftiger Schwiegersohn entsetzlich schnarchte. „Er wird doch nicht schon gegangen sein?“ Ich reichte ihr ein Glas Champagner. Anne war aber auch furchtbar nervös. „Hat er mich blamiert?“ „Dich?“ Ich lächelte. „Nicht, dass ich wüsste.“