Alte Bekannte

30 09 2014

„Aber ich kenne da doch keinen!“ Herr Breschke befand sich in einer durchaus verzweifelten Lage. Auf der einen Seite hatte er seiner Frau ein Versprechen gegeben; auf der anderen Seite war er eben Horst Breschke. Und dann war dort eben der Seniorenverein.

„Ich werde auf gar keinen Fall in dieses Seniorendings gehen!“ Er war sich bereits jetzt vollkommen sicher, dabei hatte er seiner Frau genau dies versprochen. Was freilich vor der Abreise geschehen war – die Gattin besuchte gerade ihre Schwester, während der Hausherr samt Dackel sein kärgliches Frühstück aus einer Tasse Kaffee und einem halben, aber trockenen Brötchen im Garten genoss. „Diese alten Leute, was soll ich denn mit denen? Ich kenne doch keinen!“ „Wissen Sie“, riet ich aus der hohlen Hand, „theoretisch könnten Sie doch bei der Gelegenheit mal jemanden aus der Nachbarschaft kennen lernen?“ Das war zu viel; er knurrte und murrte, aber war nicht zu einem Gespräch bereit. „Was soll ich denn dort? Sie werden nicht einmal Bismarck dulden, und wo soll ich ihn in der Zeit lassen?“ Der Hund, ein selten dämliches Exemplar seiner Art, schien nicht recht zu wissen, warum er zum Streitpunkt wurde. Er legte seinen Kopf auf die Pfoten und guckte gleichmütig.

Die Seniorenstation hatte sich herausgeputzt. Wenigstens waren diesmal die Papierkörbe geleert, der Rasen war einigermaßen frisch gemäht und die Beleuchtung funktionierte. „Nur Mut“, sprach ich dem Strohwitwer zu, „man wird Sie nicht gleich auffressen.“ Er war offensichtlich anderer Meinung. „Schauen Sie nur“, klagte er, „die kennen sich. Ich werde dort bloß unangenehm auffallen.“ Was allerdings ein wenig übertrieben war. Breschke fiel dort nicht unangenehm auf. Nicht einmal angenehm. Er fiel dort gar nicht auf.

„Junger Mann“, krächzte eine der Damen, „ich nehme noch so einen koffeinfreien Kaffee, aber die Hälfte bitte heißes Wasser!“ Ich schüttelte mich; Breschke, soweit das zu sehen war, schüttelte sich innerlich, vermutlich aber nur aus Zurückhaltung. „Holen Sie mich hier raus“, zischte der Pensionär, „das stehe ich nicht durch!“ „Ach wo“, tröstete ich ihn. „In einer Viertelstunde haben Sie sich daran gewöhnt.“ Die Damen an der Kuchentheke – beide sicher erst Mitte fünfzig, wenn nicht sogar noch deutlich jugendlicher – lächelten dezent herüber. Breschke war es sichtlich unwohl. Vielleicht hatte ich doch unrecht gehabt?

„Herr Schmidt?“ Eine grau gelockte Dame im grau gemusterten Kleid brüllte Breschke direkt ins Ohr. Er zuckte zusammen, doch mein Arm war noch in Reichweite. „Nein, Breschke!“ Was sie nicht abhielt, den Dialog fortzuführen. „Ich dachte schon, Sie sind es nicht selbst! Was macht Ihre Tochter!“ Der ehemalige Finanzbeamte drehte sich panisch zu mir. „Was weiß sie davon?“ „Bestens“, schrie ich. „Ausgezeichnet, sie ist gerade auf den Malediven!“ „Auch schön“, röhrte die Graue, „ich kenne die Gegend um Erfurt!“ Bismarck, der denkbar anspruchsloseste Dackel im weiten Umkreis, schien alles das nicht zu stören. Er stand ohne jede Regung zwischen Breschkes Beinen. Gut, dass er sich mit Hörgeräten nicht auskannte.

„Ist doch schön hier“, heuchelte ich, während Horst Breschke panisch an seinem Schonkaffee schnüffelte. „Sie sind doch…“ „Wülstering“, bestätigte sie, „Emma Wülstering.“ „Er hat mir schon so viel Gutes von Ihnen erzählt.“ Die Dame im geblümten Kittelett kicherte ein bisschen, doch die Schlacht war noch nicht gewonnen. „Wer ist das“, flehte er verzweifelt. „Keine Ahnung“, gab ich ungerührt zurück. „Aber wir werden es bald herausfinden. Oder Sie, wenn es schiefläuft.“

Um Bismarck musste ich mir keine Sorgen machen, er saß längst aufmerksam auf einem Sessel und wurde von den Damen begutachtet. Breschke saß daneben, aber er wirkte irgendwie weniger glücklich. „Das muss da gewesen sein, die hatten diesen Apfelkuchen, und das war in dem Jahr, wo der Sommer so warm war.“ „Damals hatten Sie gerade die Ligusterhecke gepflanzt“, soufflierte ich, „oder war das die Zwergpflaume?“ „Mein Mann wollte ja damals immer Spalierbirnen“, berichtete Frau Wülstering, „aber der Platz zwischen den Hecken und der Hauswand – Sie kennen das doch auch, oder?“ Herr Breschke nickte. „Wir haben die Rasenkante um einen Meter nach innen versetzt, damit ich den Mäher da noch durchkriege. Der Nachbar hat sich zwar beschwert, aber da kennen Sie mich schlecht!“ Die Sache lief.

„Noch ein Tässchen?“ Die Ältere der beiden Jüngeren schwenkte ihre Kanne, doch ich hatte erst wenig von der hellschwarzen Plörre verdunsten lassen. „Er ist gut in Form“, grinste sie. Tatsächlich führte Breschke gerade in einem großen Monolog aus, wie er dem Nachbarn einen ganzen Eimer Laub über die Hecke gekippt hatte. „Und das, obwohl er verheiratet ist.“ Die Damen lauschten gespannt. „Ich glaube“, meinte er nonchalant, „ein Stückchen Butterkuchen könnte ich noch vertragen.“ So gefiel er mir. Und dann packte mich Breschke plötzlich am Arm. „Holen Sie mich hier raus“, sagte er hastig, „stellen Sie sich vor, die besuchen mich zu Hause – furchtbar!“ Bismarck hopste gleichmütig von seinem Sessel. Gut, dachte er sich, dass bald Frauchen wieder nach Hause käme.