Gernulf Olzheimer kommentiert (CCLXIX): Musicals

5 12 2014
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Einmal nicht aufgepasst, die falschen Medikamente erwischt oder eine dramatische Überdosierung, und schon hüpft man kreischend durch den kahlen Plattenbau. Mitbewohner werden hernach den Ermittlungsbeamten mitteilen, man habe den Mitbewohnern mitgeteilt, dass man nun einen Kaffee zubereite, einen Kaffee, ja-ja, Kaffee, oh-oh, Kaffee, Kaffee, Kaffee – den kaffeesten Kaffee des Universums, tschakka-tschakka, den Kaffee, Kaffee, Kaffee. Die Patronenhülsen lagen immer schon in der Küche, und der mild verbrannte Geruch war wohl Zufall. In dieser Umgebung muss wohl die Geburtsstunde des Musicals ihren Lauf genommen haben.

Nicht alles, was man in einem Polyesteranzug erledigen kann, ist auch Kultur im engeren Sinne, und so erbarmte sich irgendwann die Industrie, um die sozial benachteiligten Anwohner vom einsamen Konsum miserabler Konservenschlagerkonserven zu erlösen. Aus dem Fundus zusammengenagelte Kulissen, Kostümgedöns und ein paar verstolperte Tanzschritte waren rasch geboren, die Handlung spielte keine große Nebenrolle, und die größten Kathedralen des dramaturgischen Elends standen bereit, die Eucharistie des schlechten Geschmacks bei ihrer Zwangshochzeit zu beherbergen. Das von Musike begleitete Tingelgetangel winselte durch die Landschaft, und es blieb. Aus Gründen.

Wer das Artifizielle, sprich: den gekünstelten Schwiemel der Oper schon immer für einen mentalen Zahnschmerzfaktor hielt, wie die Darsteller ihre mäßig interessanten Probleme im ausgestanzten Dialog aneinander vorbeischwafeln, um dann jäh in die überflüssige Arie auszubrechen, die vor Jubel, Schmerz und Rache quietscht, der wird auch den ästhetisch suboptimierten Kitsch der Kleistersinger nicht beschwerdefrei vertragen. Zum Glück ist die Mehrheit der Bevölkerung komplett geschmacksresistent und ohne Gegenwehr, sie sind durch Gruppenschunkeln hinreichend sozialisiert, halten jeden Sondermüll für Kunst und klatschen, sobald das limbische System Raumtemperatur hat. Man stellt sie leicht zufrieden. Wer die Qualitäten der englischen Küche kennt, ahnt dumpf, wo die Begeisterungsfähigkeit dieser Spezies anfängt.

Spaßmacher und Radauhumoristen jeglicher Couleur sind schon immer dem harmlosen Volk nur auf die Plomben gegangen. Wer sich als Zumutung für den Durchschnitt erwies, der grub stets unten Löcher und baute an, was das Zeug hergab, dümmliche Witze, sentimentalen Dreck mit dem Kernduft der Realitätsverleugnung, eine freudige Feier der Hirnschäden, wie sie sich politisch im Sinne der Machthaber hindrehen ließ. Das Musical aber vereint das Schönste dreier Welten: schmalztriefenden Gesang, dümmliches Gehampel und eine Art von Schmierentheater, die den Intellekt des gemeinen Zuschauers beleidigen würde, besäße er überhaupt einen. Es ist jene Catch-all-Strategie, um den Rezipienten ein aus Schmierseife fabriziertes Bildungserlebnis vorzutäuschen, das sie mit geschwollener Drüsen sich einverleiben, dessen eingedenk, es hätte schlimmer kommen können.

Zwar wird hier und da behauptet, das im Musiktheater etablierte Repertoire sei auch nichts anderes als eine skrupellose Zweitverwertung dramatischer Reste, doch was immer sich auf der Musicalbühne an die Rampe quält – Beate Zschäpe, der 11. September, das neue Smartphone von dieser komischen Firma da oder schlicht die neue beschissenste Bundesregierung so far – fällt aus Mangel an höherer Qualität nicht groß auf. Ein Broadwayerfolg über die Rückseite der Gebrauchsanweisung eines Nasenhaarschneiders wäre die Regel, nicht die Ausnahme. Die Circushalligallisierung der Brüllkultur zwischen betäubendem Pathos und perforierender Komik hat sich als moralische Leeranstalt to go etabliert, als Kanalisation der Miserabilitäten, die selbst für die Filmindustrie nicht mehr taugen und sich auf einer Bühne besser ins kollektive Bewusstsein der Bildungsversager entsorgen lassen.

Inzwischen bedienen sich die Galeerenpauker auf der Besetzungscouch an den nachgelassenen Opfern der Castingshows, wie sie madengleich ins Rampenlicht wimmeln, kaum bis gar nicht wissend, dass sie in Stundentakt und Wechselschicht vor durchweg zahlungskräftigem Publikum verheizt werden. Längst klotzt man feste Arbeitslager in die Gegend, wo die Tanzmäuse der untersten Mittelschicht zwei bis drei Vorstellungen pro Tag vorturnen, inhaltsfrei hingespuckte Potpourris von allseits bekanntem Mitklatschmaterial, Investments für die abgerichteten Lemminge. Man hätte sie weiterbilden können, bestenfalls in einer sensiblen Phase ihrer geschmacklichen Degeneration, und mit viel Glück und Geduld hätte es einer von ihnen bei kundiger Anleitung in eine anständige Operette geschafft. Vielleicht.