„Danke vielmals, sehr hübsch! Aber die können Sie wieder mitnehmen. Die brauchen wir nicht. Tanne ist okay, Kerzen auch, nur die Engel nicht. Unser Landesverband hat sich gegen die Christianisierung ausgesprochen. Wir machen da nicht mehr mit.
Natürlich ganz friedlich. Wir wollen von keinem indoktriniert werden, deshalb werden wir auch niemanden indoktrinieren. Und wir machen das auch komplett gewaltlos und gesellschaftlich total offen. Ja, glauben Sie jetzt wahrscheinlich nicht, aber das ist so. Wir demonstrieren zweimal die Woche abends für gesellschaftliche Akzeptanz unter besonderer Nichtberücksichtigung von Christentum und sogenannten christlichen Werten.
An sich betrachte ich Religion als Privatsache, aber wenn Sie schon fragen: meine Frau und ich haben so einen kleinen Thor-Garten hinter dem Haus. Da gucken wir uns bei Sonnenuntergang an, wo der Hammer hängt. Aber wenn Sie jetzt zufällig katholisch sind oder Pole oder schwul, meine Güte – gehen Sie halt mit. Nur weil es ein paar Idioten gibt, die gegen Religion demonstrieren und in Wahrheit alles hassen, was nicht stolz ist, deutsch zu sein, können wir uns doch kulturelle Integration leisten, oder?
Gut, dann ist das eben schräg. Sie sägen sich Äste von einer Tanne ab, ich pflanze lieber einen ganzen Baum. Betrachten Sie sich jetzt auch als kultivierter, weil ich in meinen Baum keine elektrisch betriebenen Lichterketten hänge? Und wenn ja, würden Sie diese elektrisch betriebenen Lichterketten als christlichen Wert im engeren Sinn bezeichnen wollen?
Meine These ist, dass die Christianisierung dem ganzen Kontinent schweren Schaden zugefügt hat. Die Ethnien haben alle mehr oder weniger friedlich miteinander gelebt, und dann kam die Kirche mit ihren politischen Marionetten, getarnt als Kaiser, und hat mit Gewalt alles getauft oder geschlachtet. Nicht immer in dieser Reihenfolge. Und was man nur mit Gewalt in seinen Besitz bringen kann, muss man auch ständig mit Gewalt beherrschen.
Ganz nebenbei sollten Sie sich mal klarmachen, was so eine Christianisierung für negative Folgen für das Gemeinwesen hat. Sonntagsarbeit? Können Sie knicken. Tanzverbot an kirchlichen Feiertagen, was der Gastronomie da an Einnahmen durch die Lappen gehen! Und diese ständige Einmischung ins Arbeitsrecht, bei kirchlichen Krankenhäusern zum Beispiel. Wir dürfen den ganzen Zauber bezahlen, und die wollen den rechtlichen Rahmen bestimmen. Glauben Sie denn, wir lassen uns alles gefallen? Oder hier, Feiertage! In den katholischen Ländern wird doch nur noch sporadisch gearbeitet!
Überhaupt, die Arbeit. Wer hat uns denn diese verdammte Arbeitsethik eingeprügelt? Das waren sicher keine durchreisenden Buddhisten. Immer mehr arbeiten, immer schneller, und immer billiger, immer noch Wachstum und Beschleunigung und Inflation, und dann fällt das Geld sowieso nach oben, und die erzählen dann den Arbeitern, dass man von Arbeit reich wird. Wer hat sich denn diesen Blödsinn überhaupt ausgedacht?
Nee, wir sind hier überhaupt keine religiösen Fanatiker. Krause aus der Buchhaltung war neulich mal auf so einem Walhalla-Seminar, und unsere Empfangsdame macht in ihrer Freizeit ab und zu etwas Wicca. Ansonsten sind wir alle relativ agnostisch, genauso wie diese U-Boot-Christen, die nur einmal im Jahr in der Kirche auftauchen und dann wieder weg sind. Sie können hier gerne auch als Mormone oder als Sikh arbeiten, aber ersparen Sie uns bitte jegliche Missionierungstätigkeit. Sie sind dann sehr schnell wieder weg.
Vor allem diese Vereinnahmung unserer Kultur, die nehmen wir denen übel. Sie finden doch nichts mehr, was die Christen nicht komplett übernommen und für sich umgestrickt haben. Schauen Sie sich unser schönes winterliches Lichterfest an, was haben die nur daraus gemacht? Ein dicker Mann im roten Bademantel mit ein paar Engeln, drei Provinzfürsten, das ist doch der Gipfel der Geschmacklosigkeit! Und Ostern erst – ein in ganz Europa, jawohl! Europa! verbreitetes Fest von Fruchtbarkeit und Vegetation und Mütterlichkeit, und dann kommen die mit dieser Kannibalismus-Show. Oder Samhain, das haben unsere keltischen Nachbarn gefeiert – wir sind keine von diesen sächsischen Knalltüten, wir wissen auch, was außerhalb unseres Landes vor sich geht – und dann haben die Christen daraus Allerheiligen gemacht, und jetzt kommen diese angeblich christlichen Populisten aus den angeblich christlichen Parteien und wollen uns Halloween verbieten, weil das eine Zerstörung ihrer christlichen Werte bedeutet.
Dann nennen Sie mir doch mal ein paar spezifisch christliche Werte. Aber bitte nicht solche, die man auch in einer ganz durchschnittlichen Brahmanenfamilie finden könnte oder in einem persischen Dorf. Und wenn Ihnen zufällig welche einfallen, die nicht nur als Postulate in der Predigt erscheinen und im Alltag keinen nennenswerte Bedeutung haben, dann immer her damit. Falls Ihnen auch christliche Politiker aus christlichen Parteien einfallen, die diese christlichen Werte mal praktisch umgesetzt hätten, dann wäre ich Ihnen sehr zu Dank verbunden.
Haben Sie heute noch etwas vor? Ach, schade. Na, ich will Sie nicht weiter stören. Dann noch viel Spaß beim Einkaufen und frohes Fest. Welches auch immer.“
Satzspiegel