Ich war alarmiert. „Bitte regen Sie sich nicht auf!“ Das verhieß schon nichts Gutes, aber noch viel erschreckender war der schwere, sorgenvolle Ton in der Stimme von Frau Breschke. Was war denn nur geschehen? Hatte ihr Gatte sich erkältet, vielleicht diesmal ernsthaft, oder war einem Elektrogerät der quer über die Kontinente streifenden Tochter zum Opfer gefallen? einem ihrer importierten Schnäpse mit nachtleuchtenden Farbstoffen, die wie ein Labor rochen und Dellen auf dem Küchentisch hinterließen? „Bismarck“, flüsterte sie mit heiserer Stimme. „Bismarck!“
Dabei war gar nichts geschehen. Zumindest war nichts davon sichtbar. „Er hat sich zurückgezogen und wollte alleine – Sie wissen, der treuste Freund des Menschen… er wollte uns sicher den Anblick ersparen, wenn er…“ Horst Breschke war völlig konfus und knetete ein ums andere Mal seine Finger. „Ich habe ja auch den ganzen Garten nach ihm abgesucht, aber Sie wissen ja…“ Da versagte dem alten Mann die Stimme.
„Er ist also seit heute Vormittag nicht mehr zu sehen“, konstatierte ich, „und wie ich feststelle, liegt er weder auf dem Fernsehsessel noch auf dem Läufer vor der Terrassentür.“ Horst Breschke nickte. „Gut, dann lassen Sie uns die anderen Plätze absuchen, an denen er sich üblicherweise aufhält. Wann hat er denn das letzte Mal seinen Gartenspaziergang gemacht?“ „Gestern Nachmittag“, antwortete der Alte zerstreut. „Er kommt immer so gegen drei und wartet dann, bis ich die Tür für ihn öffne, und dann…“ „Wann war der letzte Spaziergang?“ Breschke schaute mich verblüfft an. „Ich weiß es nicht“, stammelte er. „Das muss vor… nein, drei Tage ist es… also nicht Samstag, da war meine Frau bei Schneidemanns, und da kam dies Fußballspiel im Radio, und ich habe ihm ein Stück von den… also nicht in dieser Woche!“ „Aha“, stellte ich fest. „Ihr Dackel hatte gar nicht die festen Angewohnheiten,die Sie ihm gerade bescheinigen. Wo war er denn gestern?“ „Das lag aber nur an meiner Frau“, stotterte Breschke, „Sie wollte, dass ich die Steurerklärung fertigmache, und dann gab es gleich Kaffee, aber ich weiß gar nicht, ob…“
Die Leine hing noch an ihrem Platz. Der Fressnapf war natürlich noch unberührt. Kein Stäubchen lag auf der Decke in dem kleinen Korb unter der Treppe. „Er schläft sonst immer in seinem Körbchen?“ Der pensionierte Amtsrat schüttelte verwirrt den Kopf. „Eigentlich sollte er das, aber er legt sich meistens immer nur am Nachmittag hier hinein. Außer am Sonntag, aber da sind wir um diese Zeit auch meistens unterwegs, weil wir unsere Tochter abholen.“ Der hellbraune Beißknochen mit der Quietschpfeife lag wie immer an seinem Platz. Nichts deutete darauf hin, dass der dümmste Dackel im weiten Umkreis hier gelegen haben könnte. Er war tatsächlich spurlos verschwunden.
Doch ich rief mich selbst zur Ordnung. „Das ist natürlich Unsinn. Kein Hund würde sich so einfach und ohne jeden Grund aus dem Staub machen.“ Breschke sah mich vollkommen gebrochen an. „Und wenn er doch nun nicht anders konnte? Kann es nicht sein, dass er Gründe hatte?“ Argwöhnisch beäugte ich den Hausherrn. „Vielleicht musste er einfach… ich meine, in eine bessere Welt, wo er…“ Ich schüttelte den Kopf. „Der Fressnapf ist leer, die Leine an ihrem Platz, vermutlich hat er einen Spaziergang unternommen und befindet sich irgendwo im Garten.“ Er druckste herum. „Ich denke, das ist es nicht.“ „Warum denn nicht?“ Breschke war offensichtlich verlegen. „Gabelstein, das heißt, es sind eher seine neuen Gartenzwerge.“ „Ich habe aber keine bei hm gesehen.“ Er wand sich und wand sich. „Eben. Die waren ja auch neu, und dann kam Bismarck und…“
Zielsicher hatte der Dackel den Tongnomen den Garaus gemacht. Den winterlichen Überresten des Blumenbeets ebenfalls. „Aber er hat das Laub wieder auf meinen Gehweg geharkt und dann die Blätter direkt in meinen Eingang und…“ „Das wird sich der Hund bestimmt gemerkt haben“, meinte ich trocken. „Gab es sonst noch einen Grund, warum er nicht mehr in den Garten durfte?“ „Der Weihnachtsbaum“, murmelte er. „Er hat also an den…“ „Schon einmal in der Wohnung“, knurrte Breschke, „aber eigentlich stand er da noch an der Tür und war auch noch verpackt. Also der Baum.“ Seine Frau wird ein Machtwort gesprochen haben. Und sicher hatte der Nachbar kein Veto eingelegt. „Und wenn er jetzt, ich meine…“ Er schlug sich die Hand vor den Mund. Nein, das durfte nicht sein.
Da lag ein kleines Bröckchen auf dem Teppich. Vermutlich handelte es sich um einen Rest Hundekuchen. Und noch einen. Und noch einen. Die Spur führte auf den Flur. „Das lag doch gestern noch nicht da.“ Ich ignorierte Breschke, denn rasch wurde klar, dass hier des Rätsels Lösung wartete. Auf dem Küchenstuhl, gut verborgen von der herabhängenden Tischdecke, lag er, leise vor sich hin schnarchend, unter sich die erklecklichen Krümel eines Gebäckstücks. „Da lag er doch noch nie“, schluchzte der Alte. „Wie konnte er denn das tun?“ Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. „Na“, beruhigte ich, „na – es ist ja noch einmal gut gegangen. Und vielleicht gehen Sie beim nächsten Mal mit Bismarck auf die Suche?“
Satzspiegel