„Und wirklich keine Fälle von Autismus in der Familie? Ich muss das fragen, obwohl: nein, das war ja das alte Formular. Autismus ist out, und solange Sie nicht selbst Autist sind – Sie sind keiner? egal, ich kann Ihnen ja sowieso nicht das Gegenteil beweisen – ist uns das auch total gleich.
Aber Sie fühlen sich schon manchmal schlecht, oder? jetzt nicht so wie ein grippaler Infekt, wo man morgens aufsteht und niedergeschlagen ist, ein bisschen mies drauf, trockener Hals, Kopfschmerz und all die Sachen, das meine ich nicht. So richtig schlecht, dass man nicht weiß, was das eigentlich ist. Nein, kein Krebs. Das wäre ja behandelbar, außerdem stirbt man daran ja nicht, und wenn doch, dann ist das wenigstens nicht ansteckend. Sagen die meisten wenigstens.
Und Schizophrenie hatten Sie auch keine in der Verwandtschaft? Nein, das meine ich nicht. Ich hatte auch so einen Onkel, der war erfolgreicher Tapetenfabrikant und war im Widerstand, und bei der Hundertjahrfeier der Fabrik kam dann raus, dass er selbst den Vorbesitzer nach Auschwitz geliefert hatte, aber das ist völlig normal. Medizinisch auch. So ein wenig Gedächtnisschwund ist eine typische Begleiterscheinung von gesellschaftlichem Erfolg, während die psychischen Erkrankungen eher darauf schließen lassen, dass man irgendwann sozial völlig isoliert sein wird. Und die Folgen sind schlimm, das sollten Sie nicht vergessen.
Wir machen eine ganzheitliche Untersuchung. Wir verlassen uns dabei ganz auf Ihre Aussagen, und im Gegenzug überlassen Sie uns die Interpretation der erhobenen Fakten. Bislang ist uns zwar noch kein Patient untergekommen, der dann plötzlich klinisch tot gewesen wäre, aber selbst das sollte kein Problem darstellen. Wenn er sich wehrt, messen wir einfach so lange Fieber, bis er seine Meinung ändert. Wir sind da schmerzfrei.
Tics haben Sie auch keine? Ich frage das nur, weil Sie sich gerade an der Nase gekratzt haben. Das kann krankhaft sein, aber – nein, anders: das muss nicht krankhaft sein, kann es aber durchaus. Wir können es dann nur nicht beweisen, und dann ist man natürlich wieder sehr auf die persönliche Einschätzung angewiesen, auf den Gesamteindruck, den so ein Patient hinterlässt. Weil Sie sich gerade wieder an der Nase gekratzt haben, weil ich mich an der Nase gekratzt habe.
Deshalb kann ich bei Ihnen auch kein Aufmerksamkeitsdefizit diagnostizieren. Doch, könnte ich schon, aber ich weiß auch nicht, wozu das gut sein sollte. Vielleicht ist es auch gut zu irgendwas, aber ich es macht die Sache nur unnötig kompliziert, und dann lassen wir die Diagnose lieber weg. Vielleicht haben Sie tatsächlich ein Aufmerksamkeitsdefizit, und dann hätten wir es diagnostizieren können, aber das werden wir jetzt nicht erfahren. Erst hinterher. Weil man das auch aus den Folgen wesentlich besser diagnostiziert.
Nein, wir haben kein Problem mit Ihnen. Wir haben ein Problem mit den diagnostischen Möglichkeiten. Zum Beispiel damit, dass es sie nicht gibt. Wir sind immer noch darauf angewiesen, dass Sie zu uns kommen und uns möglich genau die Symptome einer mutmaßlichen Erkrankung schildern, auf die Gefahr hin, dass wir sie völlig falsch einschätzen, da es sich um Ihre subjektive Empfindung handelt und nicht um messbare Dinge wie Ihren Blutzuckerspiegel oder blaue Flecke.
Außerdem ist unsere Diagnose sowieso nicht viel wert, weil sie wegen der Notwendigkeit gesicherter Erkenntnisse erst dann stattfinden kann, wenn diese vorliegen. Für Verantwortungsträger ist das selbstverständlich zu spät. Wenn Sie politische Entscheidungen treffen müssen, dann wollen Sie die Entscheidungen am liebsten schon treffen können, bevor es etwas zu entscheiden gibt. Um das handhabbarer zu machen, haben sich die politischen Entscheider darauf geeinigt, genau dann zu entscheiden, wenn sie von einer Sache keine Ahnung haben. Behelfsmäßig werden sie ihre Entscheidung aus den Folgen irgendeines Sachverhalts herleiten; die Voraussetzungen sind ja meist nicht greifbar, aber sie verstehen: irgendwas muss man tun. Warum auch immer.
Weil die Entscheider mit uns auch ein Problem haben, und es ist dasselbe Problem, das wir mit ihnen haben: einer muss Entscheidungen treffen, für die der andere dann verantwortlich sein wird. Das ist schon schwierig genug, deshalb blenden wir die Unmöglichkeit aus, überhaupt eine vernünftige Grundlage für unsere Entscheidungen zu besitzen. Und damit wären wir dann bei Ihnen.
Unsere Diagnose steht keinesfalls fest, wie gesagt: wir können Ihr Telefon abhören und Ihre Briefe öffnen – gehen Sie zur Beruhigung davon aus, dass wir es tun, und machen Sie sich keine Sorgen, wenn wir etwas gefunden hätten, wüssten wir es vor Ihnen – und Ihr Verhalten analysieren, aber wir müssen immer davon ausgehen, dass Sie nicht alles immerzu und jedem sagen. Nicht einmal ein Mikrofon in Ihrem Schlafzimmer würde etwas helfen, aber erzählen Sie das den Entscheidern. Sie wissen es hinterher nicht besser, aber auch das wissen sie nicht.
Bis jetzt konnten wir nichts Auffälliges feststellen. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht doch etwas Auffälliges geben könnte, wir sind nur nicht in der Lage, es nachzuweisen. Es ist kompliziert, wissen Sie, aber machen Sie sich deswegen keine Angst.
Wir übernehmen das für Sie.“
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