„Natürlich dürfen Sie das nicht wörtlich nehmen. Das kommt bei allen vor, dass sie sich mal prügeln im Erstaufnahmelager. Die meisten Konflikte entstehen anhand von Nichtigkeiten, von Dialekt, von Aussehen, manche sind ein bisschen sehr überspannt nach den langen Monaten der Flucht übers Mittelmeer, über die Alpen, Sie wissen ja, es wird einem nichts geschenkt. Da muss man ein wenig Verständnis haben. Wahrscheinlich waren es ein Bremer und ein Niedersachse. Oder ein Bayer und ein Franke.
Das wissen die meisten von den Mitarbeitern gar nicht: Deutsche sind nicht gleich Deutsche. Also auf dem Papier schon, bei der Nationalhymne sowieso, wenn man nach der Fußballmannschaft geht, ist es denen auch egal, woher da einer kommt – es sei denn, man versemmelt einen Elfmeter, dann haben Sie schnell eine andere Staatsbürgerschaft am Hals – aber so im täglichen Leben, da wird man schwer assimiliert. Wenn Sie Glück haben, stammt Ihre Verwandtschaft aus den Gebieten, die vor Hitler mal eine deutsche Minderheit hatte. Wenn Sie Pech haben, war das eine Kolonie in Afrika, und wenn die deutsche Minderheit da in die Mehrheit eingeheiratet hat… – Das sind eben Zwangsneurotiker, die gründen zur Not ihre eigene Religion. Die stellen am Samstag eine Holzkiste vors Zelt und spielen dann Autowaschen. Das erfordert halt interkulturelle Kompetenz, aber das muss unsere Gesellschaft aushalten.
Sie müssen diese Gerüchte nicht ernst nehmen, dass Deutsche ständig ihre Unterkünfte abfackeln, wenn ihnen die Tapete nicht passt. Das hat es ein paar Mal im Saarland gegeben oder eben im Osten – die Bundesrepublik als solche ist ja auch nicht einfach so entstanden, Sie müssen die historischen Geburtsschmerzen da schon mit einrechnen, und das hat schon Spuren bei den Eingeborenen hinterlassen – aber die meisten von ihnen sind schon recht folgsame Untertanen der Regierung gewesen, die nicht gegen die Sozialgesetzgebung demonstriert haben, solange sie nicht selbst arbeitslos wurden, und dann kommen da auch mal einige unschöne Dinge vor. Die Deutschen lieben nun mal Ordnung, verstehen Sie? Gut, was die unter Ordnung verstehen, entzieht sich meist unserer Beurteilung, aber man muss das doch wenigstens respektieren. Wenn die der Ansicht sind, die Waschmaschine dürfe ausschließlich nach Sonnenuntergang bedient werden und wer den Müll falsch trenne, gehöre aus der Zeltgemeinschaft auf Dauer ausgeschlossen – ich sage es Ihnen im Guten, da kann man vermitteln, aber das müssen Sie wissen, da muss man vorsichtig sein, schon wegen sehr alter Stammesriten bei den Deutschen. Die sind nämlich alle rechtsschutzversichert.
Der Deutsche an sich hat ja den Drang, sich möglichst schnell und umfassend anzupassen, das stimmt. Aber man muss die Leute hier auch gut verpflegen. Das mit den Hirsefladen letzten Monat, das musste schiefgehen. Der Deutsche ist den Hunger nicht mehr gewohnt. Gut, die Politik tut ihr Bestes, dass sich das in absehbarer Zeit ändert, aber noch leben die meisten von ihnen in einem recht ansehnlichen Wohlstand. Es handelt sich ja nicht um Armutsflüchtlinge, das betonen sie bei jeder Gelegenheit. Aber sie kennen halt keinen Hunger und wollen nur das essen, was sie schon kennen. Pizza, Hamburger, Wiener Schnitzel, Spaghetti, Döner. Deutsche Hausmannskost halt.
Da wird jetzt natürlich vieles auch romantisiert, die wollen beispielsweise eine Pizza original wie in der Fußgängerzone in Herne. Das sind Auswüchse, damit muss man zurechtkommen, die Deutschen sind nicht alle so. Sie sind alle ein bisschen wehleidig und haben schlechte Laune, wenn sie sich nicht beschweren können. Das scheint mir auch der Punkt zu sein, wir haben ihnen nicht genug Gründe dafür geliefert, also werden sie jetzt sehr introspektiv und suchen sich ihre Konflikte selbst. Eine Kulturlücke, wenn Sie so wollen. Das ist nicht besonders angenehm, aber was soll man machen. Sie sind ja nun mal hier.
Sie müssen natürlich berücksichtigen, dass nicht alle Deutschen auch jahrhundertelange Wurzeln in ihrer Gesellschaft haben. Da gibt es teilweise Konflikte mit den unterschiedlichen Migrationshintergründen, die muss man sensibel beobachten und gegebenenfalls die ethnischen Gruppen in den Lagern auch räumlich trennen und beaufsichtigen, dass es da nicht zu Anfeindungen kommt. Das, was Sie da neulich hatten mit den Schwaben, die den Berliner Dialekt nachgeahmt haben, das ist sozusagen die Verlängerung dessen. Wenn Sie aber beispielsweise eine ostpreußische Familie mit schlesischen Einwanderern und Sudetendeutschen in direkter Nachbarschaft haben, da kann es schon aus nichtigen Gründen zu spontanen Prügeleien kommen.
Aber das mit den Frauen, da können Sie ganz beruhigt sein. Da herrschen noch Zucht und Anstand, in der Hinsicht sind sie als Flüchtlinge geradezu vorbildlich. Ein Deutscher belästigt ausschließlich deutsche Frauen.“
Satzspiegel