Ad libitum

17 11 2015

Die beiden jungen Männer in den grauen Anzügen durchquerten im Stechschritt das Foyer. Kurz vor dem Aufzug blieben sie ruckartig stehen. Die Tür öffnete sich. Scharrnagel winkte. „Die Konferenz fällt aus“, rief er. „Aber Sie haben doch bestimmt einen Augenblick Zeit für mich?“ Wann war man schon einmal im Amt für Wirklichkeitsanpassung.

Die Abteilungen waren offen und hell. Es gab kaum Wände, die Schreibtische standen locker im Raum verteilt. „Bei uns wird auf Teamwork sehr viel Wert gelegt“, erklärte mir der Referent. „Es darf ja nichts zum anderen passen, Sie verstehen?“ Natürlich verstand ich nicht. „Wenn jeder seine eigene Wirklichkeit immer mit den Auffassungen der anderen abgleichen würde, dann könnte man sich doch gleich an die Tatsachen halten.“ Das immerhin leuchtete mir ein. Damit macht man nun mal seine Erfahrungen.

„Bösche und Kollegen arbeiten gerade an einer neuen Arbeitsmarktstatistik.“ Die Sache sah höchst wissenschaftlich aus; der genannte Abteilungsleiter bemühte sich, eine rote Linie möglichst genau auf der Abszisse einzutragen. „Nach unserem neu entwickelten Standardmodell gibt es gar keine Arbeitslosigkeit, und die nimmt auch noch ab.“ „Das passt ja nun nicht zusammen“, wandte ich ein, aber Scharrnagel erklärte es mir. „Wir haben zwei Befunde, die vollste Vollbeschäftigung, und dazu den Rückgang der Arbeitslosenzahlen.“ „Letzterer übrigens, weil wir die Statistiken immer besser bereinigen können“, beeilte sich Bösche, aber das war dem Referenten egal. „Sie sehen, es gibt zwei nicht miteinander vereinbare Sachverhalte – das können wir gut als Wirklichkeit in unserem Sinne durchgehen lassen.“

In seiner Mappe lagen die Papiere zweier Automobilkonzerne. Die einen hatten die Kunden betrogen und wollten es nun geradebiegen, die anderen hatten die Kunden nicht betrogen (oder man hatte das Gegenteil nicht beweisen können), wollten aber, dass die einen es nicht mehr geradebiegen konnten. „Sie haben mit komplexer Materie zu tun“, befand ich. Er nickte. „Unsere Störgröße ist nicht immer nur die Wirklichkeit, es sind immer wieder auch die Realitäten, wie andere sie sehen. Gerade für die anderen Bundesämter ist es manchmal recht schwierig, wenn sich jemand, der so gar nichts von der Materie versteht…“ „Sie meinen den Bundesminister?“ Scharrnagel nickte. „Der kann sich ja nicht einfach vor die Presse stellen und sagen, was er sich denkt – meistens denkt er ja noch nicht einmal etwas – der muss ja auf die Befindlichkeiten der Industrie Rücksicht nehmen. Oder wenigstens auf den Konzern, der seinen Wahlkampf bezahlt.“

Dem Informationsblatt des Amtes hatte ich entnommen, dass sie nach strikten ethischen Vorgaben arbeiteten. „Wir würden zum Beispiel niemals die deutsche Wurst schlechtreden“, betonte Scharrnagel. „Viele tun das ja aus einem gewissen Interesse, und wir haben den ehernen Grundsatz, die deutsche Wurst nie auch nur anzuzweifeln.“ „Aber wenn die deutsche Wurst sich nun schon einmal in der Kritik befände, dann würden Sie sie doch sicher von jedem Tadel befreien?“ Scharrnagel nickte. „Auf jeden Fall, das verstößt schließlich gegen keine Vorschrift.“

Einige wenige Trennwände gab es doch im hinteren Drittel. „Sie bleiben gerne unter sich, da ist die Abstimmung mit den anderen Abteilungen sehr schwierig.“ Kleine angeheftete Zettel verrieten, dass es sich um Verschwörungstheoretiker handelte, die eine gesellschaftliche Elite aus Reptiloiden postulierte. Oder solche, die fest überzeugt waren von der Gedankenkontrolle durch Funkstrahlen. Oder Wirtschaftswissenschaftler. „Aber das ist nicht so schlimm“, beruhigte mich Scharrnagel. „Sie verstehen von der Wirklichkeit normalerweise eh nicht genug, da erübrigt sich jeder Abgleich.“

Jetzt aber benötigte dieses Amt dringend Nachwuchs. „Uns stehen große Aufgaben ins Haus. Die Geheimdienste machen ihre Arbeit auch nicht mehr richtig, und die werden auch verstärkt. Da dachte ich, vielleicht könnten wir auch ein bisschen mehr…“ Ich lächelte ihm zu. „Sicher“, antwortete ich, „das werden wir schon hinkriegen. Momentan haben wir so viele existenzielle Probleme – denken Sie an den Obstexport nach Russland.“ „War das nicht umgekehrt?“ „Ach was!“ Ich wischte seine Einwände einfach weg. „Es hängt ja schließlich an den Flüchtlingen, dass unsere Renten seit Jahren nicht mehr angemessen steigen, und wenn dadurch die Überfischung der Weltmeere noch mehr zunimmt, werden wir über kurz oder lang noch viel mehr für die kaputten Bahnschienen ausgeben.“ Er nickte eifrig. „Ein Familiennachzug würde auch die Brücken stärker als bisher belasten!“ Ich war zufrieden mit Scharrnagel. „Sehr richtig. Und wenn dann auch noch die Zinsen steigen und die Reichen in diesem Land noch viel reicher werden – das gibt kein Flüchtling zu, dass ihm das egal ist, aber das nehmen Sie denen doch wohl hoffentlich nicht ab – dann haben wir eine noch viel längere Bauzeit bei den Projekten in Brandenburg, Hamburg und Stuttgart, und wem haben wir das zu verdanken? So, und nun schreiben Sie daraus ein schönes Exposé, Ihr Auftraggeber wird begeistert sein.“ Scharrnagel strahlte.

Die Tür öffnete sich. Ruckartig drehten sich die beiden jungen Männer in den grauen Anzügen um und durchquerten im Stechschritt das Foyer. Manches blieb eben immer so, wie es war.