Snjørkel

5 01 2016

„Das ist unten.“ Anne ließ keinen Widerspruch aufkommen. Das Brett lag ohnehin auf dem Boden, und die Seitenteile des Regals kamen aus Gründen der Abmessung nicht für ein Fundament in Frage. „Du könntest also diese langen Bretter mit den Holzstiften – da sind doch Holzstifte?“ Natürlich waren da Holzstifte, sogar eine ganze Tüte voll. Das Problem lag also darin, dass diese verdammte Tüte nirgends aufzufinden war.

Der Raum sah noch recht unstrukturiert aus, an der einen Längswand lagerten die Umzugskartons, an der Fensterseite standen dagegen Kisten. Nur an der Westseite lehnten bereits besagte Seitenteile der Stellage. Eigentlich waren es deren vier, aber drei von ihnen sollten ins vordere Zimmer, in dem die Empfangskraft das Telefon bewachte. Dass im voll aufgerichteten Zustand die Tür für sie zu klein war – die Regale, nicht die Büromitarbeiterin – hieß jedoch, dass sie draußen bleiben mussten. Nur eine kleine Bücherecke sollte hinter dem Schreibtisch in der Ecke Platz finden. Anne fing, wie immer, ganz unten an.

„Wo hast denn die Stifte wieder gelassen“, nörgelte sie, „immer verlegst Du die wichtigsten Sachen.“ Nach kurzer Analyse griff ich zielsicher in die linke Tasche ihrer Jacke, die über der Lehne des Drehstuhls hing. „Ich erinnere nur an die beiden Kugelschreiber von Staatsanwalt Husenkirchens Geburtstagsfeier“, sagte ich lakonisch. „Sollte irgendwann die Mona Lisa verschwinden, werde ich Interpol unauffällig auf Deine Jackentaschen aufmerksam machen.“ Anne schnaubte. „Jedenfalls sind sie jetzt wieder da.“ Sie riss ungeduldig die Tüte auf; eine Kaskade aus Kleinteilen klackerte auf die Dielenbretter. „Natürlich wieder so ein instabiles Ding!“ Ich nickte. „Ein Sack, der sich an der Aufreißkante öffnen lässt. Ja, ein Skandal.“

Kaum zehn Minuten später hatte ich in der kleinen Ecke, die die Umzugskästen zu diesem Zweck nur hergaben, die fehlenden Stifte gefunden und legte sie aufs Fensterbrett zu dieser offenbar von neolithischen Fresken inspirierten Anleitung, nach der Tollpatsche das Regal aufbauen sollten. Zweiundzwanzig in aleatorischer Ordnung über die Fläche verstreute Piktogramme wiesen den hoffnungsvollen Käufer an, das Möbel in seine letzthinnige Gestalt zu bringen. Snjørkel, so sein Name, hatte immerhin sechs Ebenen, deren drei durch symmetrisch angeordnete Schwingtüren dem Betrachter verborgen blieben. Man musste also nur die Hälfte des Regals regelmäßig aufräumen.

„Wenn Du die Seitenteile hier andübelst, kann man die Hinterwand mit den kleinen Nägeln an den Kanten befestigen.“ „‚Man‘ heißt: ich“, erkundigte ich mich, „nur zur Sicherheit.“ Sie hob indigniert eine Augenbraue. „Allerdings sollte man dann auch die Regalböden vorher einsetzen“, fuhr ich fort. „oder wie sonst passen die Stifte in die Löcher?“ Anne blickte angestrengt auf die Anleitung. Sicher überlegte sie, welchen Opernzyklus Stockhausen aus dem Ding gemachte hätte, würde er nur wenige Millionen Jahre länger gelebt haben.

„Man kann das hier unten einsetzen“, überlegte Anne. Sie überlegte nicht nur, sie drückte auch einen der Holzstifte in die dafür vorgesehene – nein, offenkundig war die Bohrung dazu nicht vorgesehen, denn sie war zu klein. Sie drückte trotzdem. „Man muss die Seitenteile gleich an die andere Seite, am besten, wenn Du hier, nein, nicht da, sondern so!“ Ein unschönes Quietschen von unbehandeltem Holz wandelte sich zu einem noch weniger angenehmen Knirschen. Schon wölbte sich die furnierte Außenhaut und barst an einer Stelle, da der Bolzen nun einmal zu dick war. „Das ist die Seite zur Wand“, sagte Anne ungerührt, „das sieht man sowieso nicht, und wenn es hält, hält es.“ Die Jahre in der renommierten Rechtsfabrik hatten ihr nichts von ihrem Charme genommen, noch immer war sie eine Verfechterin ungewöhnlicher Problemlösungsstrategien. Nun, da sie ihre eigene Anwaltskanzlei gründete, stellte sich ihr endlich niemand mehr in den Weg.

Gerade wies sie mich an, die Kombination aus der mühevoll festgedengelten Platte und einem Pressholzbrett flach auf den Boden zu legen, da gab das lange Ende knarzend nach. Aus dem Gewicht neigte sich das Seitenteil rumpelnd nach außen und brach sämtliche Verbindungen entzwei, bevor es in der Horizontalen aufschlug. Zaghaft pochte es an der Tür; Luzie Freese, klein und blond und die neue Vorzimmerkraft der Kanzlei, die die Papiere ihrer Chefin stets schwungvoll mit luziefr zeichnete, steckte den Kopf herein. „Dann will ich auch nicht stören“, hüstelte sie und zog sich flink wieder zurück. „Was die Bohrungen betrifft“, sagte ich mit Blick auf den Inhalt des Tütchens, der auf dem Fensterbrett verteilt lag, „die dicken Stifte sind eigentlich nur für die Aufhängungen der Scharniere, die dünnen für den…“ „Dann kleben wir den Mist eben fest“, knurrte sie. „Großartige Idee“, befand ich. „Meinst Du jetzt die Bodenbretter an den Seiten oder gleich das ganze Ding an der Tapete?“

Rasch hatte Luzie Sekundenkleber aus dem Schreibtisch gezaubert – meine Warnungen ob der Unverrückbarkeit schlug Anne in den Wind – und so leimte sie die übrigen Zapfen in ausgeschlagene Löcher, ein Brett nach dem anderen, bevor sie die Rückwand mit einem gezielten Schwung auf den Torso schleuderte. „Hammer“, keuchte sie, „gib mir den verfluchten Hammer!“ Voller Inbrunst nagelte sie die dünne Faserplatte mit Stahlstiften an die Hinterseite. Es passte zwar nicht ganz, etliche der Nägel bogen sich unter ihren wütenden Schlägen, und ein paar von ihnen drangen recht unschön ins Innere der Regalböden. Mich beschlich ein ungutes Gefühl. Bisher hatte ich Umzüge immer mit Hilfe eines Taschenmessers bewerkstelligt und alle ihre Küchengeräte repariert, ohne den Stadtteil, in dem sie gerade wohnte, dem Erdboden gleichzumachen. Sie wischte sich eine Strähne aus der Stirn. „Du musst es nur noch aufrecht hinstellen.“ Ihr Blick fiel auf den Boden. Stumm und ohne jeden Nutzen lag dort neben dem Karton ein kleines Brettchen, das den unteren Boden hätte abschließen sollen. Man, das heißt: ich hätte es oben an die Regalfront nageln können. Aber auch so saßen die Türscharniere schon verkehrt herum. Ungläubig starrte Anne auf das Gestell. „Vielleicht“, begann ich vorsichtig, „kann man es quer in die Ecke ziehen. Die Seitenteile ergeben eine hübsche Anrichte, falls Du nicht zwei übereinander stellen möchtest.“

Die Tür schlug hinter mir zu. Luzie zuckte zusammen. „Wir hätten Yldebjæggen nehmen sollen“, seufzte ich. „In Buche lackiert.“