Weiße Materie

12 01 2016

„Kommen Sie da nicht gegen!“ Zur Sicherheit hatte Herr Breschke ein umgedrehtes Schnapsglas über das Ding gestülpt, das da auf der Küchenanrichte im oberen Ausschnitt lag. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, und dies ohne ein Vergrößerungsglas, ein kleines weißes Teilchen, an einer Seite rund, an der anderen spitzig zulaufend, nicht direkt zu etwas nutze, wenn man die Form bedachte, allerdings auch wenig bedrohlich, zumindest bezüglich des ersten Eindrucks. So lag dies Objekt, das aus weißem Kunststoff war, unter seiner Glaskuppel und trieb den Hausherrn zur Verzweiflung.

„Da lag es nämlich“, deutete Breschke mit der Pantoffelspitze auf eine unauffällige Stelle des Küchenbodens. „Genau hier, wissen Sie, und ich frage mich: was hat das zu bedeuten?“ Ich war einen kurzen Augenblick versucht, ihm zu antworten, dass der Fundort damit auf keinen Fall außerhalb unseres Sonnensystems liege – man muss solche spekulativen Erwägungen unbedingt mit ins Kalkül ziehen, immerhin gibt einem das enorme Sicherheit, wenn man sich nachgewiesenermaßen weiterhin auf der gewohnten Umlaufbahn befindet – und wir gerade noch einmal davongekommen wären. Das rührte den pensionierten Finanzbeamten jedoch nicht. „Wenn Bismarck das verschluckt hätte!“ Jener Dackel, der dümmste im weiten Umkreis, der seinem Herrchen stets freudig an der Leine zwischen den Beinen umherlief, machte gar keine Anstalten, etwas zu schlucken; träge döste er auf dem Fernsehsessel, ab und zu ein Auge halb öffnend, vermutlich träumte er davon, die Blumen im nachbarlichen Beet zu verwüsten. „Selbst wenn er es schlucken sollte“, beruhigte ich den Alten, „das macht dem Hund nichts aus. Das kommt am anderen Ende wieder raus.“ „Meinen Sie?“ Ganz hatte ich seine Skepsis noch nicht zerstreut.

Das kleine Stückchen Plastik, das Horst Breschke nun eingehend betrachtete, nachdem er es mit Hilfe eines kleinen Stückchens Papier von einem alten Briefumschlag von der Küchenanrichte genommen hatte, es fesselte ihn über die Maßen. „Ich habe einen Verdacht.“ Das verschwörerische Flüstern verhieß nichts Gutes, und so war ich auf seine blühende Vorstellungskraft gefasst, die mich manches Mal überrascht hatte. „Wenn das Ding aus dem Radio kommt, könnte es doch sein, dass es irgendwann durchglüht – schrecklich, oder?“ Er starrte gebannt auf das Gerät im Küchenschrank, dann blickte er mir ins Gesicht. Der Apparat, auf dessen beleuchtetem Schirm die Namen Hilversum, Minsk und Beromünster standen, hatte schon die Wochenschau mit dem Prager Fenstersturz gesendet. Vermutlich waren die Röhren innen an versteinerten Walfischknochen festgeschraubt, aber nicht an mikroskopisch kleinen Kunststoffknibbeln.

„Das Radio spielt noch einwandfrei?“ Er nickte. „Der Knopf ist nicht mehr so gut verstellbar, aber wir hören ja sowieso meist nur Operette, da macht das nichts.“ Meinen Vorschlag, den Plastesplitter aufs Geratewohl durch den hinteren Schlitz in den Funkempfänger zu versenken, ignorierte Breschke. Einen Kurzschluss würde das nicht leitende Teil ja nicht auslösen können, das einzige mechanische Bauteil von Belang war ohnehin außer Gefecht – eine sichere Sache.

Er zog die untere Schublade des kleinen Schränkchens auf; beim Anblick von Draht, Feilen und Zangen schwante mir Unheil. „Gucken Sie doch mal nach, ob man den Kasten nicht doch irgendwo aufschrauben kann.“ Natürlich hätte man das tun können. Allerdings hätte man ihn ebenso vom Dach schmeißen können, es wäre kurzfristig lauter gewesen, im Ergebnis aber vergleichbar. „Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie jetzt den ganzen Kasten aus dem Schrank ziehen und ihn aufschrauben wollen?“ „Aber nein“, wehrte er ab, „das würde ich nie!“ Ich atmete auf. „Ich hatte gedacht, Sie würden das für mich tun.“

Grummelnd legte Breschke den mächtigen Schraubendreher, der offenbar öfter zum Umrühren von Farbe benutzt worden war als zum Anziehen von Gewinden, wieder in die Lade zurück. „Ich weiß ja nicht“, begann ich, „ob es sich nicht um diese unbekannte weiße Materie gehandelt haben könnte.“ Er sah mich ungläubig an. „Zufällig ist mein Großneffe ja Astrophysiker“, dozierte ich. „Die dunkle Materie hat in einigen Teilen des Alls bereits solche Ausmaße angenommen, dass es ein Gegengewicht braucht.“ Breschkes Knie schlotterten sichtbar. „In unserer Küche?“ Ich nickte. „Man muss sehr vorsichtig sein damit, das Raum-Zeit-Kontinuum ist nicht gerade stabil. Am Ende entsteht hier noch ein Weißes Loch.“ Er kippte ächzend auf den Küchenstuhl. Da sich das Schnapsglas ohnehin in Reichweite befand, holte ich die Flasche mit dem Doppelkorn aus dem Eisfach.

Japsend saß der alte Herr auf dem Stuhl, während ich beiläufig den Tretmülleimer öffnete. Das bunte Schild eines neuen Sockenpaars sah mir entgegen, daran befestigt die Überreste der dünnen Nylonschnur, von der jenes Teilchen stammen musste. „Ich würde vorschlagen, wir entsorgen die kosmische Gefahr mit der Mülltüte.“ Breschke nickte eifrig. „Wenn das aus dem Haus ist, kann es uns auch nichts mehr anhaben.“ Er schnappte sich den Beutel und stürmte zum Gartenzaun. Bismarck blinzelte schläfrig aus dem Sessel herüber. Was wusste er schon, wenn hier die Welt gerettet wurde.