Der alte Herr stand gefährlich zitternd auf der vorletzten Sprosse, noch dazu auf Zehenspitzen. „Hier ist es gerade“, presste er hervor. „Ich verstehe das nicht!“ Beherzt griff ich nach der Trittleiter. Er stieg langsam herunter, eine Hand an der Strebe, in der anderen die jüngst erworbene Wasserwaage.
Wer Herrn Breschke kannte, und nicht eben wenige kannten den pensionierten Finanzbeamten, der wunderte sich nicht über sein Vorhaben, das Vordach seines Hauseingangs auf etwaige bauliche Mängel zu überprüfen. „Nur zur Sicherheit“, wie er betonte, „aus kleinen Bauschäden entstehen oft die schlimmsten Katastrophen – heute ist nur das Dach ein bisschen schief, und in ein paar Jahren fällt dann vielleicht das ganze Haus in sich zusammen!“ Er blickte beunruhigt auf die Wasserwaage. „Die war im Heimwerkermarkt im Sonderangebot, und ich hatte meine alte sowieso nicht mehr gefunden im Keller, und da musste ich natürlich messen, ob das noch so stimmt.“
Was das handliche Instrument zutage förderte, war eine eben merkliche Schiefe des Vordaches, das allerdings, legte man das Maß an die Hauswand an, korrekt montiert worden war. Ich selbst nahm es nach eindringlicher Aufforderung des Hausherrn in die Hand, kletterte die wackelige Leiter hinauf und legte die Libelle an – die mittige Luftblase ließ mich erkennen, dass hier wohl alles mit recht und winkligen Dingen zuging. „Lieber Freund“, teilte ich dem Alten mit, „Sie werden dem Bauherrn für keinen Mangel auf die Schliche kommen, und sollte dies Vordach auch später installiert worden sein, so haben Sie wohl erst recht das Nachsehen.“ Seine Miene verfinsterte sich jäh. Was mochte nur in ihm vorgehen? Bismarck, der sprichwörtlich dümmste Dackel im weiten Umkreis, kannte diesen Blick; mit gesenktem Haupt trippelte er zur Westwand und verschwand unter der Ligusterhecke.
Doch an Horst Breschke hatte der Zweifel schon zu lange genagt. „Es ist nämlich immer der Regen“, erklärte er, „der hinterlässt in der Regenrinne das Wasser.“ Überrascht blickte ich zu dem vorderen Rohr des Überhangs. „Und ich hatte mich schon immer gefragt, woher das kommt.“ Er hatte meine Bemerkung sicher überhört. „Es sammelt sich dann hier in der vorderen Rinne, weil es ja über das schräge Dach nach unten läuft, aber die Nase“, und hier zeigte er auf die kleine Ausbuchtung, die an das Profil angeschweißt war, um das Wasser in die Tiefe zu leiten, ohne dass es zügellos nach vorne schwappte und den Besucher in die sprichwörtliche Traufe geraten zu lassen, „die Nase ist rechts, aber wenn Sie nun bei Regen gucken, da läuft es links heraus!“ Halb fasziniert, halb geängstigt ob der Tücke des Objekts deutete er mit dem Zeigefinger auf das Dach. „Vorne ist es schräg, aber auch in die richtige Richtung – das kann doch alles nicht stimmen! Da kann es sich nur um einen Schaden handeln, und ich weiß genau, dass ich da nichts an der Rinne kaputt gemacht habe!“
So folgte ich Breschke in den Keller. „Man könnte auch mit einem Stück Schnur – es gibt da so eine russische Methode, ich muss Ihnen das mal erklären, man braucht einen Rechenschieber dazu und sonst ein Zentimetermaß.“ Er wühlte in den Regalen. Bismarck hatte sich aus Neugier vor das Kellerfenster getraut, ging aber schnell wieder im hinteren Garten in Deckung, als es vernehmlich rumpelte. „Das sind nur die Farbdosen, die wollte ich längst – holla!“ Da war sie also, die historische Wasserwaage, keinesfalls in den Wirren eines lange vergangenen Jahrhunderts entschwunden. Das gute Stück schien zwar recht abgegriffen, war aber dem Augenschein nach noch voll funktionsfähig. „Man müsste die Messung wiederholen“, überlegte er. „Eine Waage links und eine Waage rechts, dann wüsste man wohl, ob sich die Konstruktion noch gerade verhält.“
Mit der frisch befüllten Gießkanne kam er aus dem Garten gestapft – Bismarck war nun endgültig unter der Ligusterhecke verschwunden und sollte bis zum Nachmittag nicht mehr hervorkommen – und drückte mir die beiden Waagen in die Hand. „Legen Sie sie an, eine links und ein rechts!“ Ich erklomm die Leiter aufs Neue. Die beiden Geräte erwiesen sich nicht gerade als Balancierhilfen. „Und jetzt anlegen!“ Wie geheißen legte ich die beiden Waagen aufs Vordach, eine an jeder Seite. Und da ich schon einmal oben stand schnippste ich gleich ein hartnäckiges Stückchen Moos aus der Rinne. „Sehen Sie etwas?“
Wie zu erwarten hatte die Prozedur mit beiden Wasserwaagen das erwartbare Ergebnis erbracht: das Dach war auf der einen Seite nicht schräger als auf der anderen. „Es könnte ja vielleicht in sich noch schräg geworden sein“, überlegte Breschke. „Das heißt, wenn es nicht durch die Befestigung an der Hauswand – aber nein, da habe ich es ja schon nachgemessen. Wir müssen es irgendwie…“ Abrupt griff er zur Gießkanne, die er mir anreichte. „Gießen Sie kräftig“, befahl er. „So werden wir herausfinden, wie stark die Schräge ist!“ Ich wollte etwas einwenden, aber er stampfte entschieden mit dem Fuß auf. „Gießen“, schrie er, „gießen Sie! Wir werden ja sehen!“ So goss ich, und wie zu erwarten strömte das Wasser zur vorherbestimmten Seite ab, just da, wo Herr Breschke stand, nun plötzlich recht nass von oben. „Es funktioniert“, rief er begeistert, „es funktioniert wirklich!“ „Man nennt das die Heisenbergsche Unschärferelation“, erklärte ich beim Abstieg. „Wenn man es beobachtet, dann ist da wegen des Wellencharakters der Materie – Sie verstehen schon.“ Heftig nickte Breschke. Es geht doch nichts über eine sorgfältige Messung.
Satzspiegel