
Gernulf Olzheimer
Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.
Alle Jahre wieder vergisst einer den Stöpsel des Abendlandes rechtzeitig zu ziehen, und dann quillt die Suppe über den Rand. Einigen nationalistischen Aktivisten schwillt das Meinungsorgan und es verschafft sich am Gehirn vorbei Freiheit, meist nur das, was es dafür hält. Die Armee der geistig nicht besonders Waffenfähigen marschiert auf, um allen anderen Liebe und Frieden einzuprügeln. Genau so muss das sein, sonst kapiert keiner die christlichen Werte.
Schon bei oberflächlicher Betrachtung sieht man, dass das Konstrukt einer Tugendgesellschaft um einen hohlen Kern aufgebaut ist. Wesentliche Bestandteile einer religiösen Ethik – übrigens fast jeder religiösen Ethik – sucht der Beknackte stets vergeblich. Nicht mit der Lupe, sondern vergeblich, weil in der Regel reaktionäre Zombies eine leicht nach Moder müffelnde Monströsität mitlaufen lassen wollen. Für Liebe und Frieden, vulgo: die christliche Tugend der Nächstenliebe ist hier kein Platz, weil sie dem Raster der Kreuzfixierten zuwiderliefen. Wert kommt von Wertung, und das hier verkauft dem putzigerweise komplett säkularen Pöbel eine Tütensuppe aus Abwertung, die nur aus der eigenen Perspektive wie eine Aufwertung aussieht – kann man den Neger diskriminieren, ist man selbst eine Stufe höher als er. Wie aber in einer auf Abwertung fußenden Gesellschaftsordnung die Tugenden des Christentums funktionieren sollen ohne Selbsterhöhung, jenen perfide in Blasphemie abkippenden Kernwert konservativer Pharisäer, das bleibt das schmutzige Geheimnis ihrer Erfinder.
Nun hat das Christentum in seiner Geschichte und in seinem Einfluss auf gängige Moral durchaus ein paar Vorstellungen zusammengeschwiemelt, die sich trefflich kritisieren lassen. Dass die Frau als Wurfinstrument und Küchenpersonal dem Manne zu dienen hat, dass der Herrscher immer recht hat, dass Homosexualität widernatürlich ist und durch säkularisiertes Recht ausgegrenzt werden muss aus dem Gehege der bürgerlichen Ehe, das alles wird heftig befehdet. Freilich zeigt der Schwärmer mit zitternden Fingern auf andere Glaubensformen, um sie – Zeichen seiner Nächstenliebe – für reaktionär und zivilisationsfeindlich zu erklären, während er selbst die Auswüchse einer religiös verbrämten Doppelmoral für glaubenskonform und damit jeder Kritik entzogen hält.
Die Schizophrenie dieser praktizierenden Brauchtumsterroristen zeigt sich vor allem daran, dass sie ihre eigenen verquasten Vorstellungen für Werte halten – als wäre Nostalgie sittsam und sich nach dem Stuhlgang die Finger zu waschen ein von der Glaubenskongregation abgesegnetes Ritual, das Agnostikern eigentlich verboten werden müsste. Ansonsten lassen sich die Andächtigen nur mit der protestantischen Leistungsethik fotografieren, wohl wissend, dass auch sie nur ein vom Kapitalismus getriggerter Bastard der Allmachtsfantasien ist, wie sie jahrhundertelang im Gier und Jetzt das Leben derer zerstört haben, die (Wertung? Wertung) aus lauter göttlicher Vorsehung unter den 99 Prozent geboren wurden. Was Konsens ist, Rechtsstaat und Toleranz, wurde nicht von Religionären erkämpft, sondern gegen sie. Das Mäntelchen der Selbstliebe ist zu kurz, um es aus Barmherzigkeit zu teilen, die Religion, jene Turnübung gegen Existenzangst, wird durch derart dialektischen Dünnsinn zum Trigger ebendieser Denkphobie. Wenn der eigene Laden Frauen wie Haustiere behandelt, heißt das ja noch lange nicht, dass die anderen das auch dürfen.
Und so hält die an historischer Verquickung von Staat und Kirche eingenordete patriotische Fraktion tapfer fest an Pseudowerten, die nicht einmal Tugenden sind: kapitalistische Gesellschaftsnorm, Nationalismus, gruppenbezogener Menschenhass, alles, was helfen könnte, eine imaginäre Kultur zu propagieren, die die Werte der Aufklärung entweder missachtet oder zur eigenen Abgrenzung braucht.
Nachgerade niedlich, wenn das Zentrum des Christentums verteufelt wird: der Pazifismus wird auf dem Altar aggressiver Ichsucht geschnetzelt, damit er nicht am Ende zur Rücksichtnahme auf Andersdenkende gerät. Wie gut, dass sie sich auf eine größtenteils von jeder Sachkenntnis ungetrübte Zucht konfessionsfreier Nulpen verlassen können, die ihnen den Schmadder in Bausch und Bogen abkaufen. Denn wer sich einreden lässt, es gebe innerhalb religiöser Zusammenhänge überhaupt so etwas wie einen Wert, geschweige denn Werte, der lässt sich auch eintrichtern, die einen – die eigenen nämlich – seien wertvoller als die anderen. Trägt die Klosterfrau also Katholenburka, ist das normal, das Kopftuch einer Sachbearbeiterin jedoch hat vor dem Sado-Zubehör an der Dienststellenwand kein Bleiberecht verdient. Man tut die Augen auf und sieht Grützbirnen, die langsam kapiert haben, dass die Gegenwart nicht mehr die Vergangenheit ist, und sich für die Zukunft warmhassen. Ein guter Anlass, um einmal kritisch über Gewaltlosigkeit zu diskutieren.
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