Sie waren überall. Einige wanderten ziellos an der Scheibe entlang, die auf den Innenhof hinausging, andere wanderten zielstrebig auf die Scheibe zu, die auf dem Teller lag, gutes Graubrot, darauf Butter und Mortadella. Hildegard schien das zu stören. Dabei war es doch meine Küche, in der sich das Getier häuslich niedergelassen hatte.
„Sie stören mich seit Tagen“, klagte sie. „Ich wollte sie ja wegmachen, aber Du findest dieses Spray immer so penetrant.“ Ich sah sie aus meinen verquollenen Augen an. Stunden zuvor war ich ins Bett gefallen, nach einer mehrtägigen, vergeblichen Reise an der Seite des TV-Produzenten Siebels. „Jetzt mach doch mal etwas, diese Fliegen werden noch den Haushalt übernehmen!“ „Dann können sie ja wenigstens mal abwaschen“, murmelte ich und griff in die Richtung meiner Kaffeetasse. Immerhin hatten sie sich dort noch nicht angesammelt, es war ihnen vermutlich zu heiß. Hildegard fuchtelt vor dem Gesicht herum. „Um alles muss man sich hier selbst kümmern“, knurrte sie. „Der Herr hält es ja nicht für nötig.“
Fünf volle Tage hatten wir in einem müffeligen Hotel gewohnt und einen Landwirtschaftsbetrieb nach dem anderen aufgesucht. Die Ergebnisse der Reportage waren so gut wie nicht verwertbar. Ich hatte auf der Couch geschlafen. Mein Rücken war eine einzige Sollbruchstelle. Anders als erwartet war Hildegard nicht einmal am Tag gekommen, um den Briefkasten zu leeren, sie war gleich geblieben. Es gab keine Milch mehr. Die Post lag auf dem Stutzflügel. Und die Anzahl der Bewohner in dieser Etage hatte sich unversehens potenziert. „Das wirst Du wahrscheinlich aus diesem komischen Hotel mitgebracht haben“, moserte sie. „Das kriecht in die Koffer, und dann sind sie heute Nacht geschlüpft.“ „Weil sie so klein sind“, antwortete ich, „sicher, die anderen, die sich letzte Woche vermehrt haben, die sind ja schon erwachsen.“ Sie guckte mich grimmig an. Ich war viel zu müde, um mich zu streiten, und genau das regte Hildegard maßlos auf.
Eine nervöse Stubenfliege sirrte gegen das Fenster im Arbeitszimmer. Ich drehte den Griff herum und kippte es, mit etwas Mühe gelang es mir, das Insekt hinauszubugsieren. Bis auf eine Rechnung war wenig Interessantes in der Post; sie half mir, den Gast am erneuten Eintritt ins Zimmer zu hindern. Ich stellte die Kaffeetasse auf den Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Nur ein paar Handgriffe, ein paar Notizen, dann würde ich mich wieder hinlegen und den restlichen Schlaf nachholen. „Sie sind sogar im Bad“, hörte ich es jammern. „Mach doch endlich was, oder muss ich das alleine in die Hand nehmen?“ Es schepperte. Sie musste mit der Hand auf den Tisch gehauen haben, um eine Fliege aus dem Dasein zu entfernen. Oder gleich deren komplette Sippe.
Eine knappe Stunde später erwachte ich aus unruhigem Schlaf. Es hatte nichts genützt, ich war immer noch ich, aber die Fliegen waren nach wie vor da. „Sekt soll ja helfen“, teilte mir Hildegard mit, während sie ungerührt mit dem Staubsauger durchs Schlafzimmer fuhr. „Wir haben übrigens gar keinen da, nur diesen trockenen aus Frankreich, aber den werden sie wohl nicht mögen.“ Ich verbiss mich ins Kopfkissen. Vielleicht war das alles nur ein wirrer Traum, gleich würde ich im Zug wieder zu mir kommen, schlaftrunken aussteigen und mich in ein Taxi werfen, das mich nach Hause brächte. Vielleicht war das alles aber auch Wirklichkeit, eine besonders grausame dazu, und Hildegard war als Herrin der Fliegen dazu ausersehen, mir die Sünden meines möglicherweise nicht mehr lange dauernden Lebens auszutreiben. Ich stand auf, griff nach einer Zeitung, rollte das Papier und drückte es ihr in die Hand. „Du bezahlst, was Du kaputt machst.“ „Hier steht ein Glas mit Orangensaft“, hörte ich es mit deutlichem Vorwurf aus der Küche. „Und hier ist noch eine Kaffeetasse.“ „Es ist meine“, murmelte ich und ließ mich in einen Sessel fallen. Hildegard rümpfte die Nase. „Wenn Du ständig Kaffee trinkst, dann kannst Du ja nicht schlafen.“ „Umgekehrt“, stöhnte ich. „Wenn ich schlafe, kann ich keinen Orangensaft trinken. Je mehr Gläser Du in der Wohnung herumstehen lässt, desto mehr verteilt sich auch dieser Fliegenschwarm.“
Den Ritzen zwischen den Dielenbrettern entquoll ein Wispern. Es mussten inzwischen so viele sein, dass der Haushalt nicht mehr das Problem war. Sie planten längst, die Menschheit zu unterjochen. Meine Sprachkenntnisse würden nicht ausreichen, um mich mit ihnen zu verständigen. Ob sie mich am Leben lassen würden? Und wenn ja, in welcher Funktion?
Ich musste kurz eingenickt sein, jedenfalls verteilte Hildegard vorsichtig kleine Schälchen im Zimmer. „Essig“, presste sie hervor, während sie die Fliegenfallen balancierte. „Das soll helfen.“ Wem auch immer und wobei, das interessierte mich schon nicht mehr. Seufzend ging ich in die Küche. Wenn ich schon keinen Schlaf fand, dann würde ich wenigstens Kaffee finden. Ich klammerte mich an der Tischkante fest. Ein stechender Geruch wehte mich an. Unwillkürlich öffnete ich die Klappe unter der Küchenspüle. Mehrere angebissene Äpfel lagen dort im Verpackungsmüllsack, gut drei Tage alt. Schiller hätte seine Freude an ihnen gehabt, aber in seinem Pult hatte auch kein Fliegenkongress stattgefunden. Hildegard sah mir zu, wie ich die Tüte zuschnürte und zur Tür trug. „Das habe ich gerne“, rief sie. „Verreisen, aber den Müll nicht rausbringen!“
Satzspiegel