„Und jetzt wird sie herausfinden, ob ihr Nachbar Besuch bekommt. Und vom wem.“ Er lehnte sich behaglich in seinem Drehsessel zurück. Auf dem Monitor liefen ein paar Zeilen durch. Hier gab es nichts zu erfahren. Sie lebten ihr Leben weiter wie bisher. Zumindest glaubten sie das.
„Wir haben eigentlich nur ganz normale Leute auf dem Radar.“ Hier in seinem kleinen Zimmer in der großen Behörde, in der niemand so richtig wusste, was die anderen Abteilungen eigentlich tun, manche wollten es nicht wissen, manche durften es auch gar nicht erfahren, hier saß er ganz ruhig, fast schläfrig vor seinem Bildschirm und betrachtete die Ergebnisse einer zufälligen Auswahl von Personen, die an einem zufälligen Nachmittag in einer kleinen Stadt ihrem Alltag nachgingen. „Und jetzt nehmen wir mal den hier. Er ist seit Tagen nicht aufgefallen, vielleicht fühlt er sich schon gar nicht mehr richtig beteiligt.“ Er tippte ein paar Worte ein. Die Zeile blinkte. „Er befindet sich in der Nähe eines anderen Zielobjekts, von dieser Person wissen wir noch gar nichts.“ Eine andere Zeile färbte sich plötzlich ein, dann wechselten die Namen blitzschnell ihre Reihenfolge. „Sie haben Kontakt aufgenommen?“ Er schüttelte den Kopf. „Er ist in denselben Bus eingestiegen, um herauszufinden, was diese Person tut. Wohin sie fährt. Was sie gerade in diesem Moment vorhat.“ Ich begriff es noch nicht. „Wollte er denn überhaupt den Bus nehmen?“ „Darum geht es ja“, erläuterte er. „Sie kennen sich nicht, aber er folgt für uns einer Spur. Deshalb wird er jetzt seine eigentlich geplanten Aktivitäten unterbrechen und diese andere Person verfolgen.“ Langsam schien ich zu begreifen, worum es sich hier handelte. Die Bewegungsradien einiger Personen trafen sich und ergaben bestimmte Muster – doch nein, das war zu einfach. Eine Maschine hätte das erledigen können.
„Ich werde ihm noch eine Nachricht schreiben“, meinte er. „Warten Sie. Zielperson verlässt den Bus an der erwarteten Haltestelle.“ „Sie wissen doch gar nicht, wann der andere aussteigen will.“ Er blickte mich nicht an. „Das weiß mein Empfänger aber nicht“, entgegnete er. „Hauptsache, er verfolgt sein Objekt ohne große Widerrede. Das gibt zwanzig, wenn ich nett bin: dreißig Punkte.“ Sollte das etwa ein Spiel sein? „Natürlich“, sagte er. „Das ist ein Spiel. Nur ein großes Spiel.“
Währenddessen hatte sich die Konstellation wieder verändert. Aus einer anderen Abteilung kam eine Botschaft, dass zufällig ein intensiver Kontakt in den Bus zugestiegen war. „Ich gebe jetzt der Kollegin Bescheid, dass wir ihre Person als Zeugen für etwaige anderen Kontakte einsetzen werden. Wir müssen ja wissen, ob sie tatsächlich zusammen den Bus verlassen.“ „Und was kriegen Sie damit raus?“ Er zuckte mit den Schultern. „Es ist ein Spiel, wie gesagt: ein großes Spiel. Alle diese Personen wurden irgendwann zufällig ausgesucht und angesprochen. Sie installieren sich eine App, und dann beginnt eine Art Schnitzeljagd. Oder nennen Sie es meinetwegen einen Agentenkrimi, bei dem der Mitspieler denkt, er sei der einzige Akteur.“ „Er wird ferngelenkt?“ Er nickte. „Und gibt Ihnen bereitwillig Informationen über andere Personen heraus, die er nur dazu ausspioniert?“ Wieder nickte er. „Sie machen das alle freiwillig. Man kriegt ja Punkte dafür.“
Inzwischen war der Kontrollmann auch aus freien Stücken noch weiter als beabsichtigt mit dem Bus mitgefahren, als die beiden anderen, ein Verfolgter sowie ein doppelt Verfolgter, aussteigen wollten. Offenbar fiel es niemandem auf, dass sie alle angestrengt auf ihre Telefone schauten und so taten, als wären sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt. „Und was bringt Ihnen das? Was machen Sie mit den Informationen?“ „Ich weiß nicht.“ Er sah mich in der Tat etwas hilflos an. „Wir haben ja noch nicht so viel sammeln können. Der eine ist möglicherweise herzkrank, der andere hat eine Schwäche für Kuchen und muss es heimlich ausleben. Mehr können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.“ Wieder schob sich eine Zeile nach oben. „Briefe aus dem Kasten nehmen und Absender notieren“, befahl er dem unbekannten Agenten. „Wir könnten irgendwann zufällig einen dicken Fisch an der Angel haben, und dann müssten wir sonst ja erst eine Verbindung zu ihm aufbauen, ihn von Vorteilen überzeugen, die sein Handeln, möglicherweise sogar ein Verrat…“ „Da zählen die zwanzig Punkte in einem anonymen Spiel natürlich mehr.“ Er schwieg lange.
Unterdessen hatten sich ständig die Zeilen verschoben, manche waren blau geworden oder rot, manche waren auch verschwunden. Sein Blick ging durch den Monitor hindurch, als versuchte er, eine tiefere Bedeutung darin zu erblicken. „Wir steuern die Personen nicht ganz ohne Grund“, befand er. „Manche zeigen durch ihr Verhalten, dass sie sich zu höheren Zielen berufen fühlen, manchen können wir das auch erst vermittlen, wenn sie sich für eine gewisse Zeit mit ihrer Aufgabe identifiziert haben.“ Es wurde immer klarer, was seine Aufgabe war; er hatte es wohl auch nicht verstanden, oder man hatte es ihm nicht vermittelt. „Manchmal braucht man jemanden, der einen schnellen Bankraub macht, ein Attentat, eine Terrorzelle gründet, ich weiß es doch auch nicht!“ „Ihre Aufgabe ist also nichts anderes als die Manipulation, die Ihren höheren Zielen dient, nehme ich an?“ Verzagt sah er mich an. „Aber es ist doch nur ein Spiel?“
Satzspiegel