Er sah wirklich bemitleidenswert aus, wie er sich am Gartenzaun festhielt. Horst Breschke schniefte und keuchte. „Das ist der kühle Sommer dieses Jahr“, jammerte er, „würde er nicht so lange dauern, ich hätte mich nie erkältet.“ Ein gewaltiger Nieser schüttelte den Alten durch. Keine Frage, hier war medizinische Hilfe vonnöten.
Willig ließ sich Breschke die Kastanienallee entlangführen, zwischendurch mehrmals kräftig ins Taschentuch schnaubend. Einmal musste er sich noch am Zaun abstützen, die übrige Zeit hatte ich ihn am Arm. „Meine Frau hatte es vergangene Woche“, teilte er mir mit heiserer Stimme mit. „Aber bei ihr ist es schneller abgeklungen, sie ist ja gerade bei unserer Tochter zu Besuch.“ Die Vermutung lag nahe, dass vor allem seine aktuelle Lage als Strohwitwer zwar nicht zum Ausbruch der Krankheit geführt, ihr wohl aber den Weg geebnet hatte. Im vorigen Jahr hatte der pensionierte Finanzbeamte volle zehn Tage lang auf der Couch geschlafen, lauwarmen Tee getrunken, kaum den Garten aufgesucht, obwohl es im Haus nicht eben kühl war dank der Julitemperaturen, und er hatte nur jeweils einmal einen kurzen Gang vor die Tür gewagt, wenn Bismarck ihn lange genug vom Flur aus angeschaut hatte, weil er einen ganzen Tag lang warten musste. Die Krankheit fühlte sich offenbar recht wohl in Breschke, und es schien mir, als wäre es umgekehrt wohl halbwegs auch der Fall.
„Da ist es“, befand er, und ich kam nicht umhin, ihm sofort zu widersprechen. „Doktor Klengel ist doch schon seit Jahren nicht mehr hier“, erklärte ich mit Blick auf das neue Türschild. Die Kinderärztin im ersten Stock würde ihn sicher nicht behandeln, und im zweiten Stock saß die Nachfolgerin unseres aus Altersgründen nicht mehr praktizierenden Allgemeinmediziners. „Sie wollen doch wohl nicht…?“ „Aber es ist doch seine Praxis“, beharrte Breschke, „und wahrscheinlich werden sie alle Akten behalten haben, da kann ich doch nicht so einfach zu einem anderen Arzt gehen.“ Ich seufzte auf. Dann eben zur Heilpraktikerin.
Das Wartezimmer war angenehm leer, wir mussten nur knapp eine halbe Stunde warten, bis Frau Trummschneider uns hineinbat, das heißt: Breschke bat sie, mich nahm sie mit knirschenden Zähnen hin, weil der Alte darauf bestand. Bestimmt hatte sie sich noch einmal ordentlich auf den neuen Patienten vorbereiten müssen – die Klangschalen mit linksgerührtem Mondwasser desinfizieren, die Fichtennadeln in konzentrischen Kreisen rund um die Badewanne auslegen, alle Globuli nach Größe und Geschmack sortieren – und schien jetzt für jede lebensgefährliche Krankheit gerüstet. „Schlafen Sie nachts manchmal schlecht“, fragte sie. „Und ob“, hüstelte Breschke. „Ich lutsche vor dem Einschlafen noch mal ein Halsbonbon, aber…“ „Ich meine“, unterbrach sie ihn gereizt, „ob Sie generell schlecht schlafen?“ Unser Patient schien die Anamnese nicht so recht zu begreifen. „Da müssen Sie meine Frau fragen“, antwortete er, „sie kriegt davon mehr mit – ich schlafe ja meistens die ganze Nacht.“ Ich sah mich im Zimmer der Wunderheilerin um; auch hier war der vertraute Pillenschrank, und ich meinte, es hätte sich sogar um das von Klengel nachgelassene Möbel gehandelt. „Geben Sie ihm doch einfach etwas zur Linderung“, regte ich an, „dann sind Sie uns schnell wieder los. Und ich sorge auch dafür, dass er sie nie wieder aufsuchen wird.“ Sie rümpfte die Nase. „Wie stellen Sie sich das vor“, murrte sie. „Es gibt doch kein Patentrezept gegen Krankheit, ich muss zuerst seine spezifische Situation in Erfahrung bringen, ob es derzeit Faktoren gibt, also nicht seine Frau, die…“ „Wir haben einen Hund“, unterbrach Breschke schüchtern.
Trummschneider konsultierte vorerst ein dickes Nachschlagewerk, in dem mutmaßlich sämtliche grob nach einem grippalen Infekt aussehenden Erkrankungen aufgeführt waren. „Wir könnten eine Gemüsesaft-Therapie beginnen“, empfahl sie, doch der Kränkelnde blieb skeptisch. „Das kann sogar bei manchen Krebsarten positiv auf die…“ Schon hob er abwehrend die Hände. „Nein“, stammelte er, „das will ich nicht! Am Ende bekomme ich noch etwas viel Schlimmeres bei Ihrem Gemüsezeug!“ „Vielleicht haben Sie Ihre Gemüseextrakte ja als Tabletten“, empfahl ich. „Dann würde wenigstens die Dosierung stimmen.“ „Ich behandle in so einem Fall ausschließlich homöopathisch“, gab sie zurück, deutliche Herablassung in der Stimme. „Sie wissen wohl nicht, wie das funktioniert?“ „Wenn Sie eine niedrige Dosierung bevorzugen“, überlegte ich, „warum geben Sie ihm dann nicht einfach ein Gramm Sellerie?“ Verärgert schlug sie das Buch zu. Schon war sie beim Entscheidenden Teil angelangt. „Ich berechne für die zweiwöchige Behandlung mit Bio-Pflanzenanwendungen einen Betrag von…“ Erkältung hin oder her, der Pensionär sprang auf und griff nach seinem Hut. „Ich bin versichert“, schrie er aufgebracht, „und jetzt soll ich für Ihren Hokuspokus noch einmal zahlen? Das werde ich nicht! Kommen Sie, wir gehen!“ Ein gewaltiger Hustenanfall schüttelte ihn noch im Vorzimmer durch. „Ich werde Ihnen das Handwerk legen!“
Das kleine Mädchen mit dem deutlich geröteten Ohren sah Breschke aufmerksam an. Irgendwo im Hintergrund quengelte ein Säugling. „So“, sagte die resolute Ärztin, „ich habe Ihnen das Rezept dafür ausgedruckt. Sie kümmern sich um ihn, ja?“ Sie reichte mir ein gefaltetes Blatt und drückte meinem hüstelnden Schützling kräftig die Hand. „Wir kriegen Sie schon wieder auf die Beine. Und meine Hühnersuppe hat garantiert keine unerwünschten Nebenwirkungen.“
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