Nicht alle Tassen

5 10 2016

„Sie war die Schwippcousine der Halbschwester von Onkel Eduard.“ Weiter kam Hildegard nicht, sie musste zum Einparken die Zunge einklemmen. Das machte die Prozedur zwar nicht weniger anstrengend, aber sie hielt wenigstens für einen Moment den Mund.

„Also war Luise die angeheiratete Schwägerin von Hedwig – nicht die Hedwig, sondern die von der mütterlichen Seite von Ernst-Ludwig, dem Grubeningenieur.“ Keuchend blieb sie stehen, mich im Schlepptau mit einer Tasche, von der ich nicht so recht wusste, was sie damit eigentlich anstellen wollte. Hildegard hielt sich am Geländer fest, es war der Treppenabsatz im dritten Stock, und wir mussten ja nur noch in den sechsten. Diese alten Bürgerhäuser waren recht geräumig, besonders in der Vertikale. Meine Begleiterin lahmte. Immer müsse sie selbst laufen, immer in den sechsten Stock, und Tante Luise würde immer am Sonntag sterben. „Warum solltest Du denn nicht gehen“, entgegnete ich ungerührt, „es war schließlich Deine Tante.“ „Meine Tante, Deine Tante!“ Sie sah mich böse an. „Ich habe von ihr zur Einschulung einen Brief mit einem gepressten Kleeblatt bekommen, seitdem hat sie sich nie wieder gemeldet!“ So viel Unrecht ließ mich verstummen; schweigend folgte ich ihr auf dem Weg ins Dachgeschoss.

Herr von Manteuffel reichte uns routiniert die Hand. „Die teure Verblichene hat das Inventar noch rechtzeitig schätzen lassen“, teilte er mit, „wir haben es dann alles in ihrem Auftrag gelistet.“ Hildegard blickte sich um. „Der Sekretär war ja damals ein Erbstück von Emilie“, sagte sie pikiert. „Dabei hatte ihre Großmutter ihn nach dem Auszug der Schwester bei der Heirat – die Schwester, nicht Emilie – einfach so in den…“ „Bedaure“, warf der Nachlassverwalter ein. „Bedaure sehr, aber der ist bereits anderweitig vergeben.“ Ein Klebeschild am Schubfach untermauerte seine Aussage. „Dickie“, keifte sie. „Dickie! seitdem sie damals einen Arzt geheiratet hat, bekommt sie bei jeder Erbschaft die besten Stücke!“ „Ich kann mich an keine erinnern“, wandte ich ein, „aber wo willst Du das Ding auch hinstellen?“ „Neben den Stutzflügel“, antwortete sie. „Meinen Stutzflügel“, korrigierte ich, „und ja, ich habe etwas dagegen.“ „Darum geht es doch gar nicht!“ Möglicherweise hatte sie schlechte Laune; ich konnte mich aber auch getäuscht haben.

Die Schilder klebten an sämtlichen Objekten. So hatte ich wenigstens die Gelegenheit, mir einen groben Überblick über Hildegards Familie zu verschaffen. „Natürlich die Chaiselongue und die Stehlampen für Marlene“, ätzte sie. „Madamchen könnte ja verarmen, wenn sie zu wenig Empire in ihrer verdammten Bruchbude stehen hat!“ „Großartig!“ Ich war wirklich ergriffen von diesem Leuchtgerät. „Was haben sie doch vor zweihundert Jahren für hübsche elektrische Lampen gehabt.“ Herr von Manteuffel war sicher allerhand Kummer von den Erben gewohnt. Er begutachtete mit vorbildlicher Ausdauer die Zimmerdecke.

Da schrie Hildegard plötzlich auf. „Diese beiden Kartons? das können Sie sich auch an den Hut…“ Die Inventarliste verriet es, und mit einem Griff hatte ich den Deckel geöffnet. „Blumenmuster“, stieß sie hervor, „das hässlichste Blumenmuster der Welt!“ Es handelte sich um ein ganz allerliebstes Teeservice, außerordentlich schön in gelbe Rosen gefasst samt einer aparten Zuckerdose, einem sehr hübschen Milchkännchen und einer schlanken wie feinen Kanne. Der Verwalter lächelte zurückhaltend bis nachlässig, vermutlich würde er ein Kleinod wie dieses nie selbst besitzen. „Ich bin kein Experte“, sagte er bedauernd, „aber…“ „Das war mir schon klar“, knurrte Hildegard. „Vollkommen verstaubt. Und wie ich sehe, sind auch nicht alle Tassen dabei, oder was ist in dem anderen Karton?“ Es gelang mir, alles aus der Wohnung zu bugsieren, sowohl die Erbin als auch die beiden Behälter mit der zerbrechlichen Fracht. „Warte im Auto“, wies ich sie an. „Es ist besser, wenn ich das alles die Treppe heruntertrage.“ So geschah es, die Kartons lagen sicher auf dem Rücksitz, ich nahm zwischen ihnen Platz, um sie festzuhalten – was sollte passieren?

Zitternd trug ich die Kästen die Treppe empor, deponierte sie im Wohnzimmer, und da geschah es: das Telefon klingelte. „Siebels“, zischte Hildegard, „soll ich abnehmen oder wartest Du, bis das Band läuft?“ Ich nahm ihr den Hörer aus der Hand und meldete mich. Ein kleiner Notfall war eingetreten, die Talkshow am nächsten Abend würde neu besetzt werden müssen. Ob ich nicht schnellstens kommen könnte. „Geh nur“, sagte sie matt. „Vielleicht bist Du ja irgendwann zurück, es ist ja nur Dein freies Wochenende.“ Ich griff nach dem Mantel und warf noch einen letzten Blick auf die Kartons. „Warum schaust Du Dir nicht in aller Ruhe an, was Dir die liebe Tante Luise vermacht hat? Nach der ganzen Aufregung tut Dir ein bisschen Zerstreuung sicher gut.“ Sie schleuderte theatralisch die Arme von sich. „Ich brauche ein Staubtuch! Mindestens!“

Tatsächlich hatte es sich kaum um eine Stunde gehandelt, Siebels und der Abteilungsleiter waren sich rasch einig geworden, und so schloss ich in froher Erwartung die Tür auf. Hildegard saß am Küchentisch, ihre Oberlippe bebte unkontrolliert. In der Geschirrspülmaschine befand sich das Service, ordentlich staubfrei, dafür aber auch blütenweiß. „Sehr schön“, sagte ich. „Wirklich sehr schön. So passt es bestimmt auch besser zum Stutzflügel.“


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2 responses

5 10 2016
Der kleine Mann im Kopf

Bravo. Wie bei Herrn von Bülow.

5 10 2016
bee

Das darf Hildegard nie erfahren!

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