Gernulf Olzheimer kommentiert (CCCLI): Der elektronische Diktator

4 11 2016
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Dem Mittelalter schlug jede einzelne Stunde. Der Kapitalismus begann mit der Einführung des zweiten Zeigers an den Turmuhren, korrekt und günstiger die Zeit abzurechnen, die das Personal in der Werkstatt zubrachte. Jede Minute mehr war eine willkommene Überstunde, je weniger vergeudete Investitionen in Humanoide. Morgenappell und Stechuhr folgten, den Schichtdienst <close to market sowie just in time zu erledigen, die potenzielle Waffe gegen den Rückfall in die soziale Wirtschaft. Noch immer hatte der von Marx prognostizierte Entfremdungsprozess sich nicht totgelaufen, die Menschen glaubten noch an die Trennung von erwerbsorientierter Mühe und Freizeit, organisierte Ideale, die mit rotem Schatten auf Wahlplakate geschwiemelt wurden. The killer in me was the killer in you. Heute aber hakt sich der durchschnittliche Depp die Despotenmaschine für Arbeit und Restexistenz freiwillig an die Flosse, um nicht im Rattenrennen an letzter Stelle übers Ziel zu kriechen. Der elektronische Diktator in Gestalt des tragbaren Strafbefehls hat uns fest im Griff.

Schneller, höher, weiter peitscht der Tracker über die aufgeplusterten Scheitel der Flachdenker; mehr Tempo, mehr Action, Spannung mit Ansagen und keine freie Sekunde. Nimm nicht den Fahrstuhl wie die anderen Versager, hechte die Treppen hoch, weil sonst die Pfotenkugel kurz über Stromstöße nachdenkt – eigentlich ein Wunder, dass den allzeit bereiten Menschendesignern im Brainstorming zum rückgratlosen Befehlsempfänger noch keine ad hoc Hochspannung verteilende Fessel an die optimale Vollzugsroutine gelungen ist. Kein Henneckehonk hockte so verbissen Kniebeugen auf und ab, weil die Niedervolttrulla den Takt ins Trommelfell hieb, und nie zuvor ließ sich der offenporig auf physische Überlebensfähigkeit getrimmte Mistgabelmob in die Ecke prügeln, die Blut, Schweiß, Knochenbruch und Tränen verspricht, Schmerzen, das unsubtile Gefühl, eine Niete zu sein unter den Fehlgriffen der Zivilisation, kurz: Durchschnitt, wo Qualifikationen für Dinge wie Atmen und Arterhaltung bereits von unten bedrohlich aussehen.

Das polierte Ding an der Knickstelle, lediglich ein Massenprodukt der Halbleiterindustrie, hat ganz andere Vorstellungen von der Menschheit, wie sie sich die Shareholder ausknobeln. Wir hauen uns die Figur mit Smoothies voll – im Fachhandel als degeneriertes Matschobst auf Speed erhältlich – und atmen rhythmisch in die Tüte, um nicht als Blindgänger auf Stelzen über die Autobahn stolpern zu müssen. Der Piepskasper lässt uns zwischen dem Bürojob im Schreibtischgulag und dem Fertigsalat im Salmonellenremix noch eben den Halbmarathon wegschwitzen, den die Sehnenreste vor Ekel quietschend aushalten. Der angriffsbereite Automat im Halbaffengewand braucht nichts mehr als das Fitnessarmband, mit dem sich die Hohlhupe den Herzinfarkt ins Haus holt.

Der gemeine Dummvogel wäre ja zufrieden, würde das batteriebetriebene Gummiband ihn nur bei Planschen im Pool und Verrenkungen unter der Discokugel zeigen, aber es weist zehntel Stalingrad Celsius Hauttemperatur inklusive Blutdruck aus, Schlafzeit und Schlaftiefe, Schnarchvolumen und Ausscheidungskämpfe, sprich: das komplette Vegetativprogramm, gegen das der Besuch beim Proktologen wie ein Kindergeburtstag vorkommt, weil mit der Anerkenntnis der auf Kantonesisch gehaltenen Endbenutzervereinbarung Datenschutz zu einem Pennälerwitz wird. So pfriemelt das Gerät Systole und Sehkraft aus den verfügbaren Daten, Schrittgeschwindigkeit und Schlafphasen, um dem Dummschlumpf die doppelte Anzahl Liegestütze zu verpassen, eine körpereigene Domina, ausgelagert in die App, um den eigenen Wachzustand zu überdauern. Noch hat der Bescheuerte nicht einmal begriffen, dass er sich mit der Selbstkontrolle nicht selbst kontrolliert, sondern als Koordinationstrottel und Bettflüchter, Sitzsack und Dauersäufer outet, die Erkenntnis in den ständig auslesbaren Trichter versenkt und vom sinistren Algorithmus abhängig wird, der ihn zum Herzschlaglieferanten degradiert. Längst werden altgediente Wearables wie etwa der Hörverstärker hackbar, suppen ihren Wareneingang gratis an der Abzwackstation aus, geben Nachbarn und anderen Feinden tiefe Einblicke in persönliche Verhältnisse des intimsten Lebensbereichs, und in näherer Zukunft klingelt’s wohl auf der anderen Seite des Gartenzauns, wenn dem Verkabelten der Cholesterinspiegel über die Oberlippe steigt. Oder der Altböse manipuliert den Schrittzähler, jagt den Ertüchtigungswütigen im Galopp um den Block und erwartet genüsslich den Infarkt. Möglichkeiten gibt es viele, wenn man nur guten Willens ist.

Noch existiert keine Untragbarkeitsregelung für das transportable Leck in der Außenhülle, doch lange wird es nicht mehr dauern, bis die Technik einfach den umgekehrten Weg geht und die Person am Band regelt, pegelt, um- und abschaltet, teils nach Kassenlage, manchmal auch aus Langeweile, für Volk und Vaterland oder aus Zufall. Oder das Ding ist wirtschaftlich abgeschrieben, die Planstelle wird neu vergeben, der Prozess bricht pünktlich ab. Auf die Minute.


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