Liebe Leserinnen, liebe Leser,
wie das zum Fest der Feste passieren konnte, ich weiß es wirklich nicht. Aus dem Radio jauchzt und frohlockt es, die Paketboten tragen entsetzlich rote Zipfelmützen und tun alle wie der Weihnachtsmann persönlich – der liefert ja auch nur einmal im Jahr aus, pünktlich schon gleich gar nicht – und wer nicht mit batteriebetriebenem Rentiergeweih aus Taiwan und Weichplastik hysterisch blinkend wie ein Rettungswagen durchs einbrechende Dunkel hüpft, hat die Adventsstimmung offenbar gar nicht verdient. Hausschuh, Hemd und Heizdecke, alles verkauft sich mit X-Mas-Gedöns, laut und schräg und aufdringlich, dass man schnell merkt, wie die Verpackung den Inhalt übertüncht. Es ist zum Weglaufen, und das tun sie ja auch. Alle. Ich sitze vermutlich an den Festtagen am Schreibtisch oder vor der Hausbar, lasse dies Jahr Revue passieren – was nicht einfach sein dürfte, aber wer die Hausbar kennt, hat schon weniger Bedenken – und lege die Füße auf dem geliebten Sesselchen hoch. Alleine. Sie sind alle weg.
Als hätten sie sich verabredet. Kaum rückt der Termin näher, entfaltet sich um mich herum eine hektische Tätigkeit, alles wetzt ins Reisebüro und besorgt ein Rollköfferchen, guckt schnell nach, wo diese Malediven eigentlich liegen und wie lange es sie noch geben könnte, bevor der Billigflieger mit sonorem Röhren über die Startbahn jagt und die winterlichen Gefilde unter sich lässt. Sie sind alle weg, sie reisen, sie können den Geist der letzten paar Jahre Weihnachten schon nicht mehr sehen.
Anne hatte ihre Reise in den Süden schon lange angekündigt. Ihr erstes Jahr in der eigenen Kanzlei hat sie gut hinter sich gebracht, Luzie ist ihr Stab und Stecken geworden, ihr Mentor Husenkirchen, der jüngst seine Goldene Hochzeit gefeiert hat, hält nach wie vor große Stücke auf sie, und keiner hätte erwartet, dass sie länger als drei Monate in diesem Haifischbecken würde überleben können. Zwei Begebenheiten habe ich leider nicht berichten können, man hätte sich auf Grund der Umstände zu schnell zusammengereimt, wer sie als Verteidigerin aufgesucht hat. Immerhin habe ich ihr ins Hotel die gewohnte Portion belgischer Schokolade liefern lassen. Und ich rechne fest damit, dass sie mich am Abend des ersten Festtages wie gewohnt anruft.
Der gute Doktor Klengel genießt seinen Unruhestand nach Kräften und wandert. Auf seine alten Tage hat er sich das Aquarellieren beigebracht und streift in den Flusslandschaften umher, alle paar Wochen meldet er sich zurück mit einer Mappe kleinformatiger Landschaften, die tatsächlich eine Galeristin aufmerksam gemacht haben. Vorerst wird Anne einige Impressionen von der Rheinschleife am Bopparder Hamm in ihrer Kanzlei aufhängen, und die Bückler-Brüder überlegen auch, ob sie in ihrem Landgasthof eine Möglichkeit für Kunst am Gast haben.
Ich muss in diesem Jahr nämlich selbst kochen, das heißt: ich werde es versuchen. Kläglich, wenn ich der Wahrheit die Ehre geben soll, denn Bruno, den man zu Recht den Fürsten Bückler in seinem Reich nennt, und Hansi, den Regenten von perfektem Service und feinstem Wein, werden wir dieses Jahr entbehren müssen. Die Zwillinge feiern ihren fünfzigsten Geburtstag, und sie haben es sich verdient, einmal die Pforten zu schließen. Petermann, die rechte Hand des Küchenchefs, war drauf und dran, den Laden alleine zu schmeißen, wurde aber mit sanfter Gewalt daran gehindert. Er wird mit der Familie auf einem Donaudampfer in den Sonnenuntergang schippern, natürlich den Jahreswechsel ebenso als Gast am Kapitänstisch verbringen und frisch gestärkt den Landgasthof zu neuen Höhen führen.
(Das heißt nichts anderes, als dass ich mein Menü nach Originalrezepten von mir verehrter Köche aus deutschen, französischen und Schweizer Gefilden zubereite – einen 1995-er Wupperburger Brüllaffen sowie das 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen spendierte mir Bruno mit leisem Bedauern, dass ich mich seiner Flussfahrt nicht anschließen mochte. Exzellente Tropfen, aber bei Seekrankheit nutzlos.)
Von Siebels ist rasch berichtet. Drei Monate lang erzählte er immer wieder, er wolle diesen ganzen Fernsehmist mit seinem propagandistischem Getöse hinter sich lassen, da kam ihm der Job für die neue Staffel Traumklinik der roten Rosen unter Palmen des Abenteuers in die Quere, und jetzt haut er diesen ganzen Murks zwischen den Jahren runter (O-Ton Siebels), durchaus lukrativ, da mit Starbesetzung, Veronica Ferres spielt den zweiten Gesichtsausdruck von Til Schweiger, und nur den Regieassistenten muss man nachts die Schnürsenkel abnehmen, damit sie nicht auf dumme Ideen kommen. Es reicht ja, wenn Siebels das macht, um die restlichen Gebühren für das laufende Geschäftsjahr zu verballern. Welch ein schönes Leben!
Irgendein Rebirthing-Seminar muss ausgefallen sein, oder war es Fernreiki im Hochschwarzwald? Sigune, die leicht unzurechnungsfähige Nachbarin mit den Feng-Shui-Kakteen, klingelte mit geröteten Wangen an meiner Türe. Was war geschehen? hat eine ihrer mit linksgerührtem Vollmondwasser gegossenen Primeln plötzlich in fließendem Babylonisch die gesamtgesellschaftlichen Zustände auf ihrem Balkon angeprangert? Bekam sie eine von ihrem kompletten Kruscht, Traumfänger und Wünschelruten, gezeichnete Petition, dass die Belästigung durch billige Räucherstäbchen endlich ein Ende haben müsse? Schlimmer. Sie habe da jemanden kennengelernt. Und ja, er sei Therapeut. Und sie werde die Weihnachtstage gleich mit ihm in einem Arbeitskreis bei schamanischem Trommeln verbringen. Sofern sie ihr Geballer außerhalb dieses Grundstücks veranstalten, ist alles prima. Möglich, dass sie jetzt des öfteren mal mit ihm derlei Kurse bucht, geistige Wirbelsäulenaufrichtung oder ein Aufbauseminar Tierkommunikation (sie kann sich dann ja auf Fruchtfliegen spezialisieren, ich sehe da einen Markt), und dann werde ich mich erkundigen, was dieser Mann wo und warum therapiert. Falls ich mal einen Therapeuten brauche und dann genau weiß, zu wem ich nicht gehen werde.
Tante Elsbeth ist auf dem Schiff. Ja, genau die Tante Elsbeth, die seit zwanzig Jahren nicht mehr so gut sieht und dafür zum Ausgleich um so lauter spricht, fährt auf einem wahrhaftigen Kreuzfahrtdampfer durch die Südsee. Hildegard war empört. In diesem Alter, in diesem Zustand, in diesen Zeiten – das gehöre sich nicht, und sie sei nicht einmal zu ihrem 98. Geburtstag zu Hause, nie sei sie zu ihrem 98. Geburtstag zu Hause, kurz: es sei überhaupt alles ganz unerhört. Erstens ist Tante Elsbeth meine Tante, und darauf lege ich großen Wert, und zweitens hat sie Hildegard gebührend den Kopf gewaschen. „Du erbst sowieso nichts“, hat sie ihr am Telefon in die Ohren gedrückt, „und solange ich ohne fremde Hilfe ein Champagnerglas ins Gesicht kriege, lasse ich mir keine Vorschriften machen! Von Dir schon gleich gar nicht!“ Ich habe ihr eine hübsche kleine Aufmerksamkeit an Bord schmuggeln lassen. Sicher wird die ehemalige Direktorin eines humanistischen Gymnasiums – Latein, Griechisch und Philosophie – einen ganzen Tag lang den Dampfer durchstöbern, um einen Briefkasten zu finden für die Ansichtskarten aus Neuguinea. Hauptsache, sie hat ihren Spaß.
Und Hildegard? dass sie mich regelmäßig mit der dramatischen Leistung verlässt, derer die Ferres und die Neubauer nicht einmal zusammengenäht in der Lage wären, das ist ja nun Tradition in diesem Haus und bedarf gerade zur Weihnachtszeit keiner besonderen Erwähnung. Sie bewarb sich jüngst auf einen Posten, für den sie jeden Tag gut zweihundert Kilometer fahren müsste, einfache Tour, oder mit anderen Worten: sie plant den Auszug. Meine doch sehr einfach strukturierten Ratschläge, ihr in meiner Wohnung doch relativ massereiches Inventar dann wenigstens übergangsweise in ihre eigenen vier Wände zu schaffen, um einen endgültigen Umzug problemloser bewerkstelligen zu können, erntete von ihrer Seite keinen Beifall. Vorerst aber ist sie wie geplant ab dem ersten Ferientag bei ihren Eltern, ruft nur wenige Male am Tag bei mir an und erkundigt sich, ob ich auch alle Herdplatten richtig ausgedreht habe, und braucht unbedingt die Adresse der Änderungsschneiderei, da sie nach den Ferien sofort eine Hose wird weiten lassen müssen. Es wird, wie gesagt, doch sehr weihnachtlich sein.
Meinen Neffen Kester habe ich nun seit fast einem Jahr nicht gesehen, und wie erwartet sitzt er an seiner Habilitationsschrift über die Ausrichtung von Spinvektoren. Jüngst hat ihn eine Einladung in die Vereinigten Staaten geführt, er bleibt noch bis zum nächsten Jahr dort, hat aber seine Rückkehr schon in Aussicht gestellt. Die Spinnvektoren sind dort auch ein bisschen stark geraten, da hilft keine Wissenschaft mehr.
Von Trends & Friends habe ich seit dem letzten Zucken beim Insolvenzverwalter nichts gehört, Anne vertritt die zahlreichen Gläubiger – mithin auch mich – und so traf ich jüngst den ehedem so erfolgreichen Travel-Experten Maxim in ihrem Wartezimmer, wo er mir für die Festtage einen Kurztrip nach Nizza empfahl, man muss da Weiß tragen, you know, und es ist ein bisschen fancy, für Hildegard wäre also immer noch Hochschwarzwald drin, notfalls zusammen nach Berlin, weil da sind um diese Jahreszeit kaum Deutsche, vorausgesetzt, you know, man nimmt das richtige Hotel und geht auch zwischendurch nicht raus. Er ist durch meine Vermittlung irgendwo bei einer größeren deutschen Tageszeitung gelandet, gurkt alle zwei Wochen zu Tourismusmessen und wird gelegentlich eingeladen zu einer Hoteleröffnung, bei der er immer dieselben Leute trifft, die sich die Luxussuiten leisten können und die sie daher nicht zu bezahlen brauchen. Gut, dass ich kaum herumkomme.
Nicht einmal Reinmar ist in diesem Jahr zu Hause. Die traditionelle Schachpartie am zweiten Weihnachtstag wäre eigentlich ein Auswärtsspiel, halboffen, Nimzowitsch hat meine Ansicht über die Skandinavische Verteidigung nachhaltig erschüttert, aber auch er braucht Urlaub. Wir sollten es ab dem nächsten Jahr mal mit Fernschach versuchen.
Es wären noch so viele zu nennen, die in den vergangenen zwölf Monaten meine Wege gekreuzt haben: Minnichkeit, der nun endgültig in irgendeine Bürotätigkeit verschwunden ist und im Auftrag von genervten Abteilungsleitern Heftzwecken sortiert; Sofia Asgatowna, die Bücklers Landgasthof gut in Schuss hält und zur Freude von Cousin Hansi ihr Händchen für ansprechende Dekoration entdeckt hat; mein Patenkind Maja, das sich inzwischen so weit in die Zahlentheorie eingearbeitet hat, dass es die Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer zwar nicht mehr versteht, aber genug numerische Argumente für gewisse elliptische Kurven hat, und sie kann ihren Dozenten langsam kaum noch etwas beibringen. Irgendwas ist da immer.
Breschke! wie konnte ich nur Horst Breschke vergessen, den stetigen Quell des Entsetzens, der zeitweise mein ganzes sorgenvolles Denken ausmacht, er und Bismarck, und seine Gattin natürlich! Sie haben doch tatsächlich vor, über die Festtage ihre Tochter zu besuchen. Das Problem war nicht, dass diese sich, ganz Weltenbummlerin, immer in obskuren Regionen dieses Planeten herumtreibt, es war auch nicht schwierig, diese Reise mit dem Auto anzutreten. Das Gefährt der beiden Eheleute ist betagt, aber stets gepflegt und gewartet, hat mehrfach die Alpen überquert, war in Prag, an der Nordsee und mehrfach in der Eifel – wer sich da nach Einbruch der Dunkelheit verfährt, den schreckt so leicht nichts. Bis nach Barcelona dürften es die beiden schaffen, nur sandte sie ihrem Vater als Weihnachtsgeschenk ein Navigationsgerät. Das Ding legte mehrere Tage das Leben im Haus der Breschkes sowie den Straßenverkehr zwischen Kastanienallee und Platanenweg lahm, von meinem Nervenkostüm ganz zu schweigen. Davon wird noch ausführlich zu berichten sein.
Und einer, der wird nicht verreisen, denn er ist noch nie verreist. Der von mir geschätzte Kollege Gernulf Olzheimer wird über die Feiertage mit der Axt seine Feder schärfen und sich warm schreiben für einen neue Verbalsalve gegen die vereinigte Dummheit auf Erden. Ab und zu knurrt er wieder am Mittwoch ins Telefon, dass er nicht weiß, warum er sich das alles noch antut, dann schweigen wir beide bedeutungsvoll, und dann legt er auf. Und pünktlich am Freitag steckt dann wie ein Hieb der neue Wutausbruch in den Artikeln. Es ist noch nicht alles verloren.
Und so wären wir, am Ende des Tages, wieder am Ziel angekommen. Der Geist braucht ein wenig Ruhe, sich zu sammeln und die Perspektive wieder zu richten, was wichtig ist und was nicht. Auch ist hin und wieder Stille ganz angenehm, eine leises Abschließen, mit etwas Abstand auch ein klarer Blick auf das, was war, damit man klarer sieht auf das, was da kommt. Und damit der Spaß in diesem kleinen satirischen Salon nicht zu kurz kommt, der für jeden eine Sitzgelegenheit und etwas Kurzweil bietet. Wie in den letzten Jahren nehme ich mir einige Tage Weihnachtspause, um in aller Ruhe die alten Schätze in Klarsichthüllen zu verpacken, hier und dort nachzulesen, und am Montag, den 2. Januar 2017, geht es dann weiter. In alter Frische.
Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.
Beste Grüße und Aufwiederlesen
bee
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