Seitenwechsel

7 03 2017

„Nehmen Sie noch einen Schal mit“, sagte Siebels und griff auf den Rücksitz. Das Stricktuch war aus dicker, dichter Wolle und passte so gar nicht zu der voluminösen Mütze und den Handschuhen, die ich ohnehin schon trug. „Äußerlichkeiten“, stellte er fest und schlug die Tür zu, „sind Nebensache. In diesem Schneetreiben ist es einerlei, und für einen Sportler wird Sie sowieso keiner halten.“

Was ein wenig beleidigend klang, aber hier vor der gigantischen Kulisse einer Großschanze, wo es vor Profis in Renn- und Sprunganzügen nur so wimmelte, gehörte ich tatsächlich nicht dazu. Der TV-Produzent hatte sich unbemerkt einen Becher mit Automatenkaffee besorgt – manchmal beschlich mich der Verdacht, er würde mitten in der Wüste oder auf einem Floß über dem Marianengraben einen Automaten finden und passendes Kleingeld in der Hosentasche haben – und stapfte durch den Schnee. „Da ist das Reporterzelt“, teilte er mir mit. „Wir werden uns vorwiegend um den Nachwuchs kümmern. Überlegen Sie sich schon mal ein paar gute Fragen.“

Das Zelt war überschaubar groß, aber kalt. Es roch nach Essig, aber das schien niemanden zu stören. Ein paar junge Leute standen in der Ecke und starrten angestrengt auf ihre Notizblöcke. „Das müssen sie sein“, mutmaßte ich, und Siebels gab mir recht. „Den Blonden kenne ich, das ist Hirsch. Die beiden anderen müssen Haberknecht und Kieseritzky sein.“ Artig stellten die drei sich vor, alle am Anfang ihrer Karriere und wissbegierig. „Gehen Sie mal vor“, riet Siebels dem Blonden. „Gleich kommt Muckelmann runter, dann können Sie ihn interviewen.“ Angestrengt blickte Hirsch in Richtung Schanze. Es hatte zu Schneien aufgehört. Schon nahm der Springer Anlauf, stieß sich vom Schanzentisch ab und segelte weit durch die Luft. Ein Aufstöhnen ging durch das Publikum. „Jetzt“, sagte Siebels tonlos. „Tempo. Oder wollen Sie, dass alle anderen vor ihnen bei ihm sind?“

Wir stapften am Zaun entlang. Fast wäre Florian Muckelmann zum Schanzenlift verschwunden, in letzter Sekunde erreichte Hirsch ihn. „Super Sprung“, keuchte er und hielt sich vor Aufregung das Mikrofon unter die eigene Nase. „Wie erklären Sie sich diese Leistung?“ Muckelmann stellte die Skier neben sich in den festgetretenen Schnee. „Ja, ich war eben zu kurz.“ Der junge Reporter war verwirrt; mit der Antwort hatte er nicht gerechnet. „Aber wie erklären Sie sich…“ „Ich bin nicht gut vom Schanzentisch weggekommen.“ Der Sportler sah ihn mit einer geradezu aufreizenden Ruhe an. „Der Anlauf war nicht so, der Sprung war eben zu kurz.“ Hilflos blickte der Reporter Siebels an, der seinen Kaffeebecher mit elegantem Schwung in eine Mülltonne schlenzte. Viel war da offensichtlich nicht zu holen.

„Das war wohl nichts“, sagte ich dumpf. Doch Siebels schlenkerte einfach mit den Armen, lief gemächlich zum Zelt zurück und pfiff zwischen den Zähnen. „War doch schon ganz okay“, meinte er leutselig. „Warten Sie ab, da hinten kommt Hansi Puxpaumer.“ Eine Traube junger Mädchen umgab den Biathleten, der tags zuvor den ersten Platz im Sprint erreicht hatte. „Kieseritzky“, rief der Produzent, „Sie sind dran.“ Natürlich musste er sich erst durch die Menschentraube kämpfen, doch Puxpaumer war beim Anblick des Mikrofons sehr interessiert. „Hansi“, schwafelte der Journalist los, „super Rennen, super Ergebnis – wie kam’s dazu?“ „Ja“, bestätigte Puxpaumer. Eine Sekunde, zwei, drei Sekunden Schweigen. Zehn Sekunden. Ich wandte leicht den Kopf; Siebels blieb ganz ruhig und griff nicht ein. „Ja“, sinnierte Puxpaumer. „Ich war schneller als die anderen, und dann habe ich auch immer getroffen.“ Endlich ein Ansatz – begierig Kieseritzky nach der Möglichkeit. „Kurz vor der letzten Steigung hat Kilitenko noch einmal angegriffen, aber es hat dann nicht mehr gereicht.“ „Ja“, bekannte Puxpaumer, „ich war schneller, außerdem habe ich ja auch immer getroffen.“ Ein leichtes Zittern war in seiner Mikrofonhand zu bemerken. Vermutlich würde er gleich zu weinen beginnen. „Was haben Sie sich vorgenommen für den Massenstart am Mittwoch?“ „Ja“, überlegte Puxpaumer, „ich will auf jeden Fall immer treffen, und dann will ich schneller sein als die anderen.“

Üblicherweise hätte Siebels die Eleven mit ein paar trocken hingehauenen Sätzen davon überzeugt, ihre Berufswahl an dieser Stelle noch einmal gut zu überdenken. Doch nichts dergleichen geschah. „Das war doch schon mal sehr angenehm“, lobte er. „Ich würde sagen, es war sogar besser als gedacht.“ War das der Siebels, den ich kannte? „Sie haben es immer noch nicht kapiert?“ Es belustigte ihn, denn ich hatte überhaupt keine Ahnung, wovon er sprach. „Sie haben es nicht bemerkt?“ „Sie trainieren den Reportnernachwuchs“, antwortete ich, „aber davon ist auch wenig zu merken.“ „Falsch“, grinste er. „Die Sportler.“ Jetzt verstand ich gar nichts mehr. „Aber welchen Sinn soll das denn haben, wenn Sie offiziell für den Fernsehsender arbeiten?“ Er wurde immer noch heiterer. „Sehen Sie es als eine Art angewandte Schocktherapie. Diese Tausendsassas fragen inzwischen bei jedem Fußballspiel, wie der Spieler X den Fehlpass auf der linken Seite in der dreizehnten Minute erlebt hat. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass das ein Spieler aushält, ohne irgendeinen Mist zu erzählen, mit dem er sich über kurz oder lang vor den Zuschauern bis auf die Knochen blamiert.“ Da war etwas dran. „Und das war jetzt als Pilotprojekt gedacht?“ Siebels zog sich die Handschuhe an und trat hinaus in die Kälte. „Warten Sie es ab. Ab nächsten Monat machen wir dann Wahlsendungen.“


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