„Du hast mir das eingebrockt“, zischte Anne. „Ich hätte Ihr einen Termin gegeben, wenn Ostern und Weihnachten auf einen Tag fallen!“ Marlene Krupp-Kosinski saß bereits im Beratungszimmer, guckte skeptisch auf das Gebäckstück, das Luzie neben die Kaffeetasse gelegt hatte, und blätterte in ihrem kleinen, roten Notizbuch.
„Er hat mir Ihre Kanzlei empfohlen“, sagte die Dame. „Besser gesagt, seiner Nachbarin.“ Anne hielt angestrengt die Luft an. Sigune, die mit ihren Topfpflanzen sprach und sie mit linksgerührtem Informationswasser aus Vollmondabfüllung goss. Immerhin war die Mandantin nicht mit Klangschale und Ohrkerzen angerückt, trug keinen Jutesack und hatte nicht versucht, das Wartezimmer nach den Erkenntnissen von Feng Shui umzudekorieren. „Sie müssen etwas machen, es besteht höchste Gefahr.“ „Nur die Ruhe“, entgegnete Anne aus Gewohnheit, denn die meisten kamen mit Angst. „Wir werden das schon hinkriegen. Erzählen Sie mal.“ „Das ist die Ärztin aus dem ersten Stock“, begann Frau Krupp-Kosinski. „Oder vielleicht auch Helferin, jedenfalls geht sie jeden Morgen in die Praxis im gegenüber liegenden Haus – das heißt, sie könnte dann auch Putzfrau sein. Ich habe nichts gegen Putzfrauen, aber ich finde schon, dass man…“ „Es handelt sich also um eine Mieterin“, unterbrach Anne, „den Rest klären wir später.“ Heftig nickte die spärlich geschminkte Blonde und spielte hektisch mit ihrer Halskette. „Sie hat da so eine Art Antenne auf ihrem Balkon angebracht – ich dachte erst, das könnte eine Art Kleiderbügel sein, aber es sah doch zu sehr nach Antenne aus, Sie wissen ja: man kann mit einigen auch Signale aussenden.“ Mit einem leisen Ächzen lehnte Anne sich zurück. Mir wurde langsam klar, was das zu bedeuten hatte.
„Sie haben doch bestimmt schon davon gehört.“ Ich lehnte mich unbehaglich im Sessel zurück. „Es knackt dann immer so im Radio, oder die Lampen flackern, und wenn man bei der Polizei anruft, tun die so, als wüssten sie nicht, worum es geht.“ Mit viel Umstand blätterte sie in ihrem Büchlein. „Im Juni ging es los“, las sie vor, „da hatte ich um elf Uhr so ein Flackern in der Deckenlampe.“ „Wer schaltet auch tagsüber seine Lampen ein“, gab Anne trocken zurück, „noch dazu im Sommer?“ Die Übersinnliche schien es überhört zu haben. „Und dann knackte es einmal sehr deutlich – und ich sage das bewusst so: sehr, sehr deutlich, als ich das Radio eingeschaltet habe, und da war sie gerade nach Hause gekommen. Das ist doch kein Zufall?“
Waren es die Russen? noch oder schon wieder? Würde der längst fällige Untergang des Abendlandes an einer defekten Energiesparleuchte aufkippen? Marlene Krupp-Kosinski jedenfalls saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und ließ sich nicht beirren. „Man hört doch so oft“, erklärte sie, „dass die elektrischen Geräte ein paar Tage nach dem Ablauf der Garantie kaputt sind. Ist das Zufall?“ Wir waren einander einen betroffenen Blick zu. „Ich würde es so ausdrücken“, knurrte Anne, „haben Sie gerichtsfeste Beweise oder heute noch etwas anderes vor?“
Laut Notizbuch hatte das Teewasser tagelang nicht wie gewohnt in acht Minuten den Siedepunkt erreicht, es war schneller, teils in sieben, einmal gar in sechseinhalb zum Sprudeln gekommen. Dann wieder sah man merkwürdige Lichtreflexe in der Scheibe der Balkontür, wenn man sich ganz nach links beugte, eine Hand auf den Boden stützte und von unten in den Himmel blickte. Eine knappe halbe Stunde intensiver Beoachtung hatte gereicht, um die Wirkung hervorzurufen. „Ich hatte das nicht für möglich gehalten“, rief die schwer Getäuschte. „Sie müssen etwas unternehmen!“ Anne tastete nach der Schreibtischplatte; die war noch da, verlieh aber nur rudimentären Halt. „Wir bräuchten zuerst eine Unbedenklichkeitserklärung“, gab ich zu bedenken. „Ob Frau Freese…“
Luzie, am schwungvollen Handzeichen luziefr erkennbar, kam mit einem großen Stapel Papier an. „Für eine Untersuchung auf Strahlenschutz müsste das Landesamt erst einmal eine Unbedenklichkeitserklärung haben“, klärte sie auf. „Das Gutachten wäre erst nach der Klageerhebung fällig, aber die Anzahlung kann in Raten geleistet werden.“ „Wir müssten da vorab ein paar Dinge klären“, half ich ein, „wenn Ihre Nachbarin ohne behördliche Genehmigung einen Teilchenbeschleuniger betreibt, könnten wir auch ohne den Staatsanwalt tätig werden.“ Anne nickte. „Das Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren stuft das zwar nur als Ordnungswidrigkeit ein, aber wir könnten ihr ein Bußgeld dafür aufbrummen.“ Luzie nickte. „Bis zu fünfzig Euro.“
Hilflos blickte Frau Krupp-Kosinski von einem zum anderen. „Sie müssten“, fügte Anne maliziös an, „schon mit einem gerichtsverwertbaren Beweis zu uns kommen, damit wir tätig werden.“ Luzie reichte ihr ein Stückchen Pappe mit einem Streifen Klebefilm. „Wenn sich das blau verfärbt an der Außenluft, dann kommen Sie sofort zu uns. Wir haben die Durchwahl zur Atomenergiebehörde.“
Anne stellte die Tasse auf das Tablett. „Und wir werden sie sicher nie wiedersehen?“ „Ich wäre mir da nicht so sicher“, grübelte Luzie. „Möglich, dass sie die Behördennummer selbst herausgefunden hätte.“ Anne schnaufte hörbar. „Ich brauche noch mal die Unbedenklichkeitserklärung. Aber schnell!“
Satzspiegel