Schwarze Löcher

19 04 2017

„Dass Du auch immer alles wegräumen musst!“ Was da klapperte, war unverkennbar der Schrank im Bad, wer klapperte, konnte nur Hildegard sein, denn sonst befand sich keiner in meiner Wohnung. „Wie soll ich morgen das Paket abholen, wenn Du immer alles wegräumst!“

Meine Rasierwasservorräte wären auch ohne sie zur Neige gegangen, ganz zu schweigen von den Stecknadeln, die seit längerer Zeit unbedingt in meinem Spiegelschrank aufbewahren musste, weiß der Teufel, wozu. „Dann steht man im Bad, braucht dringend eine Nadel, Du weißt schon.“ „Ich weiß nicht“, hatte ich wahrheitsgemäß geantwortet, aber Ihr Zorn ließ das natürlich nicht gelten. „Ich möchte nicht immerzu im Bad stehen und alles suchen“, hatte sie in einem ihrer wirklich seltenen großen Ausbrüche geschrien – sie hatte manche laute, die waren öfter, aber kaum große Ausbrüche, höchstens zwei oder drei am Tag, manchmal auch pro Stunde – und gerade jetzt hätte ich diese Worte zitieren mögen. Es wäre nur sinnlos gewesen. Ich wusste nicht einmal, um welches Paket es sich handelte.

„Ich habe mir Bücher schicken lassen“, gab sie mir zu verstehen, „Fachbücher – es kann ja wohl nicht verkehrt sein, sich beruflich zu bilden, und wie soll ich das sonst bitte machen!?“ „Fangen wir doch mal logisch an“, überlegte ich. „Wo hattest Du diese Karte denn hingelegt?“ „Woher soll ich denn wissen, wo Du sie hingeräumt hast!“ Da war es wieder, das Grundproblem unserer Kommunikation. Sie wusste auf alles eine Antwort, nur nicht auf die entscheidende Frage. „Und Du bist Dir absolut sicher, dass Deine Karte sich im Bad befindet?“ Mit grimmiger Miene äugte sie aus dem Türrahmen. „Soll ich vielleicht lieber im Kühlschrank suchen?“

Langsam hatten wir den Sachverhalt eingekreist und näherten uns einer Lösung. Die Karte, ein ganz normales Stück Papier mit Datumsaufdruck, hatte im Briefkasten ihrer Wohnung gesteckt, als sie am Nachmittag nach Hause gekommen war. Da sich das Postamt gleich hier in der Nähe befindet, hatte Hildegard die Benachrichtigung mitgebracht und, so war der Stand der Dinge, in diesem Stockwerk zuletzt gesehen. Zielstrebig schritt sie in mein Arbeitszimmer und griff ins Regal. Band für Band zog sie die Literaturgeschichte heraus, Folianten von einigermaßen statthaftem Umfang, blätterte in jedem einzelnen – nichts. „Du benutzt ja alles als Lesezeichen“, nörgelte sie, „ich erinnere mich noch, wie die Opernkarten für Breschkes hier drinsteckten und bis zum letzten Moment verschollen waren.“ Es war zwar ein Geschenk zum Hochzeitstag, gut aufgehoben im Opernführer, und der stand beim pensionierten Finanzbeamten in der Schrankwand, doch wozu sollte ich mit Einzelheiten den Prozess unterbrechen. Gerade jetzt, wo wir uns dem Ziel schon so weit angenähert hatten.

„Ich habe sie sicher in den Stutzflügel gesteckt“, teilte ich Hildegard beiläufig mit. Sie wollte gerade den Deckel des Instruments anheben, da hielt sie inne. „Du hättest dazu die Murano-Schälchen und die Seidendecke abnehmen müssen“, sagte sie mit einem gefährlichen Unterton. „Warum hättest Du das tun sollen?“ „Erst wollte ich sie in den Toaster legen“, begehrte ich auf, „der wird täglich benutzt, so wäre die Karte nie in Vergessenheit geraten.“ Sie wandte sich ab und verschwand im Schlafzimmer. Mit meiner Krawattensammlung würde sie genug zu tun haben.

Das Geräusch einer in sich zusammenfallenden Baustelle riss mich aus der Meditation. „Ich finde einfach nichts“, jammerte Hildegard. „Du hast noch genau vierhundert Euro in kleinen Scheinen in der unteren Schublade, drei Brillenputztücher und eine Schachtel Büroklammern.“ „Tatsächlich“, sagte ich erstaunt. „Würde es Dir etwas ausmachen, sie ins Bad zu bringen? Man weiß nie, wann man im Bad eine Büroklammer braucht.“ Sie verfehlte mich mit dem Pappschächtelchen nur knapp. Dreihundert Büroklammern würden schnell aus dem Teppich entfernt sein.

Schublade um Schublade zog sie auf, doch ohne Ergebnis. „Du solltest hier alles kartografieren“, schlug ich vor. „Die ganze Wohnung. Am besten mit einer Strichliste, oder noch besser: Karteikarten. Da kann man dann immer alles indiziert und in ordentlicher Reihenfolge eintragen, wenn mal etwas umgeräumt wird.“ Hildegard atmete deutlich hörbar ein. „Deine Wohnung hat Schwarze Löcher“, sagte sie. „Gut, dass Du noch nichts kartografiert hast“, antwortete ich erleichtert. „Du hättest am Ende eine Karte verloren.“

Sie tat, was sie in solchen Fällen immer tat, und ging einkaufen. „Wenn Du noch etwas brauchst“, ließ sie mich wissen, „dann sag es jetzt. Ich nehme noch einen von diesen Beuteln mit, die passen noch in meine Handtasche.“ Ansonsten waren in diesem ledernen Behältnis nicht viele Dinge, ein Schlüssel, ein Telefonbuch, ein Akkuschrauber, zwei Dosen Schuhcreme, eine halb fertiggestellte Kathedrale ohne Chor und mit fehlendem Westwerk, noch ein Schlüssel sowie eine Karte, die zur Abholung eines Postpakets berechtigte. „Du hattest Recht“, gab ich zu, „sie befindet sich doch in meiner Wohnung.“ Hildegard mopste sich. „Wenn ich die Krawatten wieder eingeräumt habe, werde ich kurz nachsehen, ob im Schlafzimmer noch Platz ist. Falls Du zufällig im Bad ein Bernsteinzimmer findest.“