Einstiegsdrogen

18 07 2017

„Falls in Ihrer Familie mal Fälle von Keuchhusten aufgetreten sind, oder Autodiebstahl, oder einer Ihrer Schwestern im Kloster ist. Autodiebstahl? Wann war das? 1978? Ach so, nur passiv. Aber ich notiere das mal, man kann ja nie wissen.

Das ist ein ziemlich umfangreicher Katalog, da haben Sie recht. Aber der Bundesinnenminister hat sich nun mal dazu entschieden, einen Teil der Verbrechensbekämpfung bereits vor den Planungen der entsprechenden Straftaten zu erledigen. Dazu braucht man die Frühindikatoren beziehungsweise die Kombinationsmöglichkeiten, die wir aus den Datenbeständen extrapolieren. Das ist Wissenschaft und sehr kompliziert, das muss man verstehen, der Bundesinnenminister jedenfalls nicht, und deshalb führen wir jetzt die Einzelgespräche mit den Bürgern. Es muss ja umfassend dokumentiert sein.

Wenn Sie jetzt die Kombination Masern – zwei Jahre Arbeitslosigkeit – Brillenträgerin hätten, dann wären Sie schon eine Kategorie höher. Das wären in der Sektion 38 zwei Punkte mehr, aber nur wegen der Vergleichbarkeit von Brillen mit einem, warten Sie, Mofaführerschein. Oder nein, Motorrad. Das ist kompliziert, wir machen da auch manchmal Fehler, aber die meisten können noch innerhalb der Untersuchungshaft geklärt werden.

Gut, das mit der Brille ist auch nicht so wild, Sie haben ja eine Berufsausbildung. Ihr Vater war Trockenbaumonteur? Dann ist das völlig okay, dass Ihr Bruder Sozialversicherungsfachangestellter ist, ein Aufstieg pro Haushalt ist nicht unerwünscht. Sie haben es ja auch bloß bis zur Gesundheits- und Krankenschwesterin geschafft, aber für eine Frau mit Ihrem Aussehen ist das sicher schon mehr, als Sie erwartet hatten, oder? Dann kommen hier noch drei Punkte ab, Singen im Kirchenchor, wir merken eben alles, und hier sind verkürzte Speicherfristen für die Teilnahme an Friedensdemonstrationen mit dem durchgeknallten Prälaten. Nach dreißig Jahren sind die Einträge weg. Dann könnten Sie auf dem zweiten Bildungsweg sogar Ihr Abitur nachholen.

Das ist mir schon klar, dass Sie das nicht verstehen, aber darum geht’s auch nicht: wir haben hier unsere Daten, und dann stellen wir halt fest, dass sich einzelne Personen vom Staat abwenden und in die Kriminalität abrutschen. Ihr Sohn hat letztes Jahr öfter Freunde besucht, neben deren Haus ein Ausländer einen Gemüseladen eröffnet hat, korrekt? Ich frage nur nach. Noch haben wir da keine Beanstandungen bekommen, aber wenn wir schon mal beim Sammeln sind, könnte das irgendwann relevant werden. Man muss für alles gerüstet sein.

Die Bürger regen sich immer so auf, dass wir sie ausforschen und ihre Daten speichern, aber Sie müssen sich bloß mal die Polizeistatistik ansehen. Wir sind bei vielen Delikten überhaupt nicht mehr in der Lage, vernünftige Ermittlungsarbeit zu leisten, und deshalb müssen wir nun unsere Taktik ändern. Wir ermitteln jetzt so, dass der Erfolg ein Stück weit wahrscheinlicher wird. Doch, das geht, und dazu machen wir ja hier den ganzen Aufwand. Je mehr Heu man anhäuft, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man etwas findet, das mit viel Fantasie so aussehen könnte wie eine Nadel.

Wenn Sie jetzt beispielsweise Veganerin sind, überdurchschnittlich oft Rad fahren, obwohl Sie sich aufgrund Ihres sozialen Status sowieso kein Auto leisten können, mit hoher Wahrscheinlichkeit als Kind eine… – ’tschuldigung, Keuchhusten war schon raus, ich hatte da Windpocken aus Routine angekreuzt, das hätte jetzt fast Berufsverbot ab 50 bedeuten können. Wie gut, dass uns das noch aufgefallen ist, nicht wahr?

Das ist wie mit verbotenen Drogen. Wir können anhand der Einstiegsdrogen relativ sicher sagen, wie eine kriminelle Karriere sich entwickelt. So gut wie alle Opiatsüchtigen hat man früher wegen des Cannabiskonsums verfolgt, aber das ist Schnee von gestern, haha, Schnee! Wortspiel, haha, verstehen Sie? egal, jetzt wissen wir, dass man vorher auch geraucht haben muss, zumindest war die Mehrzahl der Drogensüchtigen vorher schon Raucher. Manche haben auch Alkohol getrunken, aber das ist eine andere Zielgruppe. Wenn wir jetzt rausfinden, dass jemand in einem Haushalt aufwächst, in dem zeitweise Personen Zugang haben, die in einem Haushalt wohnen, wo zeitweise Personen Zugang haben, die rauchen – da kommen Sie mit einer Karriere als Ministrant und dann Beamter auf Lebenszeit auch nicht mehr gegenan.

Doch, das ist alles legal. Sagt jedenfalls der Bundesinnenminister, und der hat zur Vorsicht einen gefragt, der einen kennt, der fast mal Jura studiert hätte – Sie sehen, wir arbeiten nach unseren eigenen Regeln, das dürfte Sie wohl beruhigen. Und da wir jetzt ja herausgefunden haben, dass Sie nichts zu verbergen haben – das mit der Mallorca-Reise muss ja Ihre Bank nicht erfahren, und wir beide haben uns da hoffentlich auch schon geeinigt – müssen Sie auch nichts mehr befürchten. Wir haben für Sie einen ganz individuelle Algorithmen, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Das übernehmen wir schon. Wir sind da nämlich Profis, und wissen, wie gefährlich das alles ist, für die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt, manchmal auch für die Menschenrechte und so ein Zeug. Dieselben Algorithmen könnte man beispielweise auch im Internet nutzen, wenn man herausfinden will, ob Sie für einen Kredit überhaupt geeignet sind. Aber das machen wir auf gar keinen Fall, wissen Sie? Das ist strengstens verboten!“