Ansteckende Infektion

12 12 2017

„Meine Frau hat die ganze Nacht kein Auge zugetan.“ Er räusperte sich noch einmal geräuschvoll und überprüfte den Sitz seines Kehlkopfes. „Sie meinen wohl“, korrigierte ich, „Sie haben…“ „Ach was“, meinte Herr Breschke, „ich habe doch gehustet. Mich stört das nicht.“

Der alte Herr hielt sich stark gekrümmt, als müsse er unter der Last des Reizhustens einknicken. Sein Atem ging recht ruhig, aber hin und wieder hüstelte er sehr theatralisch, als würde er einen starken inneren Druck bekämpfen. „Und dann kratzt es natürlich im Hals“, krächzte er, „meine Frau sagt auch, das hört sich krank an.“ In der Tat war die Stimme besorgniserregend, aber das war momentan auch sein Gedächtnis; vor lauter Heiserkeit vergaß er glatt, gebückt durch die Küche zu humpeln. „Es ist ja der ganze Körper“, gab er zu, „ich will das vor meiner Frau natürlich nicht so zeigen.“ Und er griff nach dem Faltblättchen auf dem Küchentisch. „Sie sollten das auch mal lesen“, gab er mir zu verstehen. „Das wird ja gemeinhin nicht so an die große Glocke gehängt.“ Ob sich die Apothekenzeitschrift indes dem investigativen Journalismus verschrieben hatte, vermochte ich nicht zu sagen. Doch was kann man ausschließen.

„Diese Schmerzen in den Knien kommen sicher auch nicht zufällig.“ Ich stimmte mit ihm überein, was der Tatsache geschuldet war, dass er zwei Tage lang auf Geheiß von Frau Breschke die Fußleisten geschmirgelt und neu lackiert hatte. Außerdem hatte sein überzeugendes, geradezu perfekt arthritisches Humpeln, das er nur im Ansatz zeigte, im Zusammenspiel mit der leichten Rückenandeutung mich in seinen Bann geschlagen. „Wussten Sie“, fragte ich vorsichtig, „dass diese Instabilität der Kniegelenke, wenn sie mit Reizhusten einhergeht, oft nur eine tiefere Symptomatik verbirgt?“ Horst Breschke sah mich verwirrt an. Wusste er denn gar nichts über fernöstliche Medizin? Oder hatten diese verdammten Apothekenzeitschriften in den letzten Jahrzehnten, seitdem ich eine von innen gesehen hatte, plötzlich ihr Programm geändert?

„Nehmen Sie doch mal die Schultern zurück“, sagte ich mit sanftem Druck, während ich ihn auf den Küchenstuhl setzte. „Haben Sie in den letzten Nächten vielleicht eine starke Atemnot verspürt?“ Entsetzt schüttelte Breschke den Kopf. „Aha“, murmelte ich. „Dann haben wir das wohl auch noch vor uns. Aber zumindest ist nicht auszuschließen, dass wir eine affektiv-pulmonale Störung haben, die im vorliegenden Fall – husten Sie mal.“ Er keuchte ein paar Mal trocken. „Richtig“, ermunterte ich ihn, „richtig husten! Wir wollen doch wissen, ob Ihr Lungenvolumen noch ausreicht.“ Der pensionierte Abteilungsleiter riss die Augen in wilder Furcht auf, doch sah er lediglich mein strenges, wenngleich ermunterndes Nicken. Er hüstelte ein bisschen, sehr trocken, und nichts machte mir den Eindruck einer schweren Erkrankung. Aber Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste, und so ließ ich ihn in die Deckenlampe blicken.

„Das sieht gar nicht gut aus“, murrte ich. „Sehr gerötete Bindehäute. Befeuchten Sie Ihre Augen regelmäßig?“ „Ich muss mal sehen“, stammelte Breschke, „meine Frau hat etwas im Schränkchen, aber ich darf das nicht nehmen.“ „Haben Sie ein starkes Durstgefühl?“ Er überlegte. „Wenn Sie mich so fragen, eine Tasse Tee könnte ich schon vertragen jetzt.“ Das war ein gefährliches Zeichen. Ich legte umgehend die Stirn in Falten, um mir die Diagnose durch den Kopf gehen zu lassen. „Wir wollen es noch nicht beschreien“, sagte ich mit einiger Vorsicht. „Aber möglicherweise haben wir es mit einer ansteckenden Infektion zu tun. Damit ist nicht zu spaßen!“

Viel gab das pharmazeutische Werbeblättchen nicht her. „Wussten Sie eigentlich, dass nächtliche Schlafstörungen immer in Schüben auftreten, drei oder mehrere Nächte hintereinander?“ Das Ding empfahl vor dem Schlafen eine Flasche Bier zu trinken, jedenfalls konnte man das aus den Inhalten jener Wunderpillen schließen, die der redaktionelle Teil anbot. „Nehmen Sie doch noch mal die Hände nach oben.“ Zitternd befolgte Breschke meinen Befehl. „Diese Schweißausbrüche“, wimmerte er. „Es kann sich nur um Cholera handeln, aber sagen Sie meiner Frau nichts davon!“ Zitternd hielt er sich an der Stuhllehne fest. „Die Zeitung hat doch neulich auch geschrieben, dass Pest und Typhus zurück sind in unseren Landen – kann man das denn ausschließen?“ Mit schreckgeweiteten Augen sah er mich an. „Nein“, antwortete ich im Ton einer Grabesstimme, „ausschließen kann man gar nichts. Schon gar nicht in ihrem Zustand.“

„Natürlich eine Erkältung“, erklärte Frau Breschke. „Er hat noch eine Nacht gehustet, dann bekam er ein wenig Fieber, und jetzt liegt er im Bett.“ Sie schob mir die Schale mit dem Gebäck hinüber. „Immerhin hat er keine Rückenschmerzen mehr.“