Gernulf Olzheimer kommentiert (CDXIV): Das Geduze

18 05 2018
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Wir wissen es nicht. Sicher war die Sprache der Hominiden im Grundausstattungsbereich eher an der lebensnotwendigen Körperfunktionen orientiert. Die Standesgesellschaft lag noch in einer halben Dimension herum, das Grunzinventar innerhalb der Sippe differenzierte sich nach Lautstärke, aber die wesentlichen Dinge kriegte das Volk schmerzfrei auf die Reihe. Ab einer gewissen Dialektvielfalt wurde es schwierig. Mit der Idee eines höheren Wesens kam vorübergehend die Komplexität der Anrede, aber das währte nicht lang. Manche in der Geschichte verwehte Epoche setzte auf Höflichkeit und teils gekünstelten Affekt, aber was war das alles schon gegen die Vorteile der gewaltfreien Kommunikation. You can say you to me. Es begann das Geduze.

Mit der allgemeinen Planierung der ästhetischen Distinktion durch mangelnden Anstand und dem pseudopolitischen Getöse der Theoretiker wucherte eine egalitäre Pest aus dem soziologischen Gulli, die ihre Tentakeln in die Nasenlöcher einer fast noch Babypuder riechenden Schicht von Hipstern stopfte, ihnen ansehnliche Teile der Großhirnrinde verödete und ihnen das Du einkokelte, wo sonst der Brechreiz verortet sitzt. Pfarrer, Richter, Dealer, alles wurde seiner respektablen Position entkorkt, man duzte nur noch, aber nicht auf die brüderliche Art, wie es auf den ersten Biss den Anschein hätte haben können. Wo die Fremdwahrnehmung eines intakten Miteinanders komplett in die Grütze ging, musste das narzisstische Selbsterleben bunte Blüten schlagen – so kam es, und das war das Problem.

Das brägenreduzierte Gesellschaftskonglomerat duzt einander, als hätte man das Sie durch standrechtliche Exekution beseitigt. Der formlose Umgang zeigt eben das: das kaum in Konturen schwiemelbare Kompott, das amorph in die Ritzen der Selbstachtung sickert, ignoriert jegliche Individualdistanz, kumpelt sich an, als wären alle in kollektiver Besoffenheit, und verursacht der Menge einen Grad an Enthemmung, der gebraucht würde, um die Belegschaft vollständig degenerieren zu lassen. Mit dem Schwinden der Scham setzt der Schwachsinn ein, hier schaltet er bereits röhrend in den dritten Gang.

Stil ist für die meisten Bekloppten nur die greifbare Seite des Besens. Davon abgesehen führt die große Gleichmacherei, die jeden Blödföhn auf die eigene Stufe zerren will, zum großen Einebnen von oben nach unten. Schon schleimt sich der erste Katalog aus dem geistigen Flachland mit der zweiten Person Singular ins Beziehungsgefüge: wir sind alle eine große Familie, schwallt der Schwede, und Du bist das Kind. War ‚Du‘ bisher natürlicher Ausdruck von gewachsener Vertrautheit und Nähe, ist es nun lediglich klebriger Aufpapper einer strikt verordneten Sympathie, die auch für die größten Arschlöcher zu gelten hat.

Einige Fremdsprachen, insbesondere die im deutschen Artikulationsraum verbreiteten, nehmen das ‚Ihr‘ des Mittelalters bis in die Gegenwart in Gebrauch und fahren nicht schlecht damit. Einmal planiert, schon schwinden sämtliche Gefälle, die in der Wirklichkeit sinnvoll sind und produktiv. Wo sich Vorstandsvorsitzende und Azubis gegenseitig das Dumm-Du um die Backen hauen, entsteht eben keine Professionalität, wie Modernisierer meinen, sondern ein schmerzbefreites Gemansche, als sei die traditionelle Form des Stammbaums in diesem Familioiden ein Kreis. Was als infantile Auflehnung gegen vermeintliches Spießertum das gegenüber liegende Extrem zum allein seligmachenden Dogma erhob, mutet einer systematisch strukturierten Welt den Terror des Egalitären zu, indem es ihn einfach als kommunikativen Befreiungskampf und zugleich als dessen Ergebnis präsentiert. Der Schüler aber, der seinen Pauker nicht siezen muss und trotzdem von ihm Noten kassiert, ist auch Mittel, Zweck und Folge eines Irrwegs, in den sich falsche Liberale mit Anlauf und Ansagen verrennen. Sie werden uns befreien, ob wir wollen oder nicht.

Was gaukelt uns in dieser Simulation von Stall- und Nestwärme nicht alles die große, erlösende Liebe vor – weg mit Schlips und Kragen, ein Hoch auf die Berufsjugendlichkeit, die bis zum Schluss fit und leistungsfähig bleibt und nie so wird wie ihre Eltern, vermoost und verknöchert, nur eben verharzt sie obenrum, dreht eher frei, als frei zu sein und deliriert sich einen Schmarrn von Selbsthass mit gelebter Erniedrigung bunt. Denn sie ertragen den ganzen neoliberalen Schrott nur, wenn sie den anderen genauso herablassend behandeln, wie sie selbst in dieser Ansammlung von Kontrollverlust und reziproker Verachtung behandelt werden. Mach platt, was Dich platt macht, dröhnt’s aus dem Maschinenraum. Hier bröseln die Reste einer bis dato noch intakten Intimsphäre. Wer braucht die noch in einer Welt, in der wir uns selbst vermessen und die Ergebnisse hautnah ins Netz stellen. Eine Armlänge Abstand täte uns gut. Es würde so vieles wieder funktionieren, wie es gedacht war. „Wir duzen uns hier alle“, informiert mit Nachdruck und dem Finger am Abzug der Depp seine Umwelt, und die einzig richtige Antwort ist und bleibt: „Schön für Sie.“