„So habe ich sie noch nie erlebt!“ Luzie knetete ihre Finger und schaute besorgt zu der Tür, hinter der seit einer guten Stunde der Mandant saß. Anne kam und kam nicht weiter. Es war zum Verzweifeln.
„Ich frage mich sowieso, wie sie diesen Mann vertreten will.“ Die Bürochefin knibbelte hektisch an einer Heftklammer herum, während im Beratungszimmer dumpfes Schweigen herrschte. „Wer ist es denn?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist es ja“, seufzte sie. „Er will es nicht sagen.“ „Doch nicht etwa ein Räuber“, argwöhnte ich, „der seine Verteidigerin nur ausnutzt?“ Energisch schüttelte Luzie den Kopf. „Wenn ich es richtig verstanden habe, will er gegen seinen Nachbarn Anzeige wegen Sachbeschädigung erstatten.“
Da öffnete sich unerwartet die Tür. Ein Herr im braunen Anzug hockte auf dem Besuchersessel, in den Händen hielt er einen Stapel Papier. Aber den hatte er, was schnell klar wurde, nicht zur Ansicht mitgebracht. „Wir werden gegen diesen Unhold vorgehen“, deklamierte er, „aber nicht mit unlauteren Methoden! Daraus dreht er uns nur wieder einen Strick!“ Einigermaßen waidwund hing Anne im Türrahmen, erschöpft von einer Stunde vergeblichen Verhörs, während der sie nichts aus dem Mann hatte herausbringen können. „Er hat eine zerkratzte Vordertür“, ächzte sie, „und der Spiegel ist abgebrochen, aber egal – frag ihn doch einfach selbst.“ „Warum nicht?“ Sie grinste schief. Mir war noch nicht klar, warum.
„Ihnen darf ich das sowieso gar nicht sagen“, protestierte er. „Und damit das klar ist, ich rede hier kein Wort mehr ohne meinen Anwalt!“ „Ich hätte auf einen soliden Sprung in der Schüssel getippt“, murmelte Anne. Aber so leicht machte er es uns auch nicht. „Nach diesem neuen Datenschutzgesetz müssen Sie meine Angaben streng vertraulich behandeln!“ „Das wollen wir ja“, wimmerte Anne. „Aber wie soll ich den Fall denn bearbeiten, wenn ich nicht einmal weiß, wer sie sind?“ „Ich darf das nicht einfach sagen“, belehrte er mich. „Erst müssen Sie mich schriftlich belehren, dass ich Ihnen zugestimmt habe – oder war’s umgekehrt? – auf jeden Fall wird alles gegen mich verwendet.“ Ich zog Anne beiseite. „Und Du bist Dir absolut sicher, dass der Typ nicht einfach einen Triller unterm Pony hat?“ „Dessen bin ich mir sogar ziemlich sicher“, gab sie grimmig zurück. „Er hat Luzie wortlos den Vorschuss auf den Tresen gelegt und sich geweigert, eine Quittung zu unterschreiben.“
Ich trat wie unabsichtlich ans Fenster und blickte auf den Vorplatz. „Momentchen“, sagte ich, „ich muss mal eben etwas gucken.“ Eine Minute später war ich wieder im Beratungszimmer. „Nun“, beschloss ich, „wir müssen den Fall zumindest theoretisch angehen, sonst kommen wir nicht weiter. Es handelt sich also um dieses rote Auto, das Ihr Nachbar mutwillig beschädigt hat?“ „Grau“, korrigierte er, „grau. Ich will mich nicht durch eine Falschaussage belasten, und ich hoffe, dass Sie das bemerkt haben.“ Anne nickte ergeben. Ich sah verstohlen auf meinen Schreibblock. Alles passte.
Mit einiger Mühe entlockten wir ihm, dass sich die Tat am gestrigen Abend abgespielt haben musste. „Sie haben natürlich keine Zeugen“, gab ich zu Bedenken. Doch ich hatte mich getäuscht. „Ich stand am Küchenfenster“, tobte der Mann. „Ich musste mit eigenen Augen ansehen, wie dieser… aber das tut jetzt nichts zur Sache. Es war ja auf meinem Grundstück, und da habe ich gesehen, wie er über den Zaun…“ Er biss sich auf die Unterlippe. Offenbar hatte ihn jetzt gerade der Datenschutz von einer vollumfänglichen Zeugenaussage abgehalten. „Aber sonst würde es doch niemand bestätigen, dass sich dieser Nachbar widerrechtlich auf Ihr Grundstück begeben hat, um Ihren Wagen zu zerkratzen?“ Er schnaubte angewidert durch die Nase. „Natürlich!“ Drohend blickte er mich an. „Die ganze Straße weiß, dass er nicht normal ist, jeder weiß das!“ Ein kurzes Häkchen auf dem Schreibblock. Dann stand ich auf. „Luzie wollte das unbedingt haben“, erklärte ich, „und wir werden die Sache danach schnellstens erledigen.“
„Halterfeststellung“, nickte Luzie. „Es gab nur einen grauen Wagen auf dem Parkplatz?“ Ich lächelte. „Genau genommen gab es nur einen mit zerkratzter Tür, aber ich wollte ganz sichergehen. Und dann müssten wir noch wissen, in welche Richtung sein Küchenfenster liegt. Schaffen Sie das?“ Sie rückte ihre Brille zurecht. „Geben Sie mir eine Viertelstunde.“
Es ging wesentlich schneller, und in der Zwischenzeit hatte der Mandant tatsächlich den einen oder anderen sachdienlichen Hinweis gegeben, nur leider langte alles das nicht. Da kam Luzie. Ich nahm ihr den Zettel aus der Hand. „Lassen Sie sehen, Doktor Watson.“ Er blickte mich misstrauisch an. „Ich glaube“, befand ich, „wir können den Fall nun ganz datenschutzkonform einer gerechten Lösung zuführen, und es sollte in Ihrem Sinne und zu bester Zufriedenheit verlaufen.“ Zur Vorsicht stimmte mir Anne sofort zu. „Lassen Sie nur, wir kümmern uns um alles und kommen dann auf Sie zu, wenn wir die nötigen Formalitäten erledigt haben.“ Er war äußerste verwirrt. Anne reichte ihm die Hand und schob ihn aus dem Beratungszimmer in Richtung Flur. „Der Täter wohnt in Nummer 37“, sagte sie. „Das reicht uns.“ „Aber…“ Sie sah im fest ins Auge. „Nur, damit das klar ist – von mir haben Sie das nicht!“
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