
Gernulf Olzheimer
Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.
Irgendwann – wir wollten die Blumen gegossen haben, aber die Scheiben sind ja so schmutzig, dass man’s eh nicht mehr sieht, auf dem Schreibtisch liegen Mahnungen, in der Ferne bellte eine Maus, die für die Evolution schon mehr Zeit hatte – war der definitiv letzte Termin, das Jahresabonnement vom Fitnessstudio zu kündigen, wie das letzte Mal, und davor, und davor, und davor. Zwölf Stunden des Tages verbringt der postmoderne Nappel auf Arbeit und in Vorortzügen, zwölf Stunden mit Schlaf samt Vor- und Nachbereitung. In der übrigen Tagesmasse geht er seinen Neigungen nach, wird gelassen, ernährt sich gesund, tanzt, nagelt die Fenster zu und zimmert dem Nachbarn eine rein, der ihm die Nachtruhe zur Nichtruhe macht. Für wen, für was, und vor allem: wie gelangt er dabei noch zur Zeitsouveränität?
Am ehesten bemerken wir das Verrinnen der Zeit, wenn außer dem nichts passiert. Der Handwerker hatte seinen Termin auf das Ende der Kreidezeit gelegt, leichte Verzögerungen in Aussicht gestellt und sich danach gemütlich versteinern lassen; wir aber hocken mit Kalk an den Körperausbuchtungen in einer Art versuppender Ewigkeit und hätten in der Zeit Weltreiche planen, durchführen und in die Grütze reiten können, alles im Konjunktiv. Wir hätten fast die Weltformel entdeckt und sie mit Bleistift auf Stullenpapier in eine handliche Form gekürzt. Nebenbei wäre uns Beethovens Zehnte eingefallen, der gerade Turm von Pisa und der Tragödie dritter Teil, das kapitalistische Manifest, der Sekundenwalzer, die braungrüngrauen Pferde, und wir hätten eine Kathedrale für alles errichtet, irgendwo in einem Gewerbegebiet südlich von Gera, wo nachts sowieso keiner nachguckt, ob noch alles steht. Stattdessen haben wir Löcher in die Abluft gestarrt und uns gefragt, wo die Vokabelhefte sind.
Irgendwann, es muss kurz vor dem Eintritt in die Sekundarstufe gewesen sein, wurde jedem von einer besonders unverfrorenen Lehrkraft ins Hirn geschwiemelt, man möge immer ein Lehrbuch der Stochastik mit sich führen, ein Kompendium der Volkswirtschaftslehre oder anderer Clownerie, in der Not ein Wörterbuch Deutsch – Mandarin. In jeder freien Sekunde, bimste der Pauker den Eleven in die kognitiv nutzbare Gallerte, drückt man sich ein Schnipselchen in die Vergessensmechanik, lernt eine Vokabel, und zack! schläft an jenem Abend der Bekloppte ein im Bewusstsein, den diem so was von gecarpt zu haben, dass er gar nicht mehr zum Yolo kommen konnte. Der Legende nach sollen in der handelsüblichen Schlange vor dem Postschalter bereits Analphabeten eine komplette Habilitation in vergleichender Hieroglyphenkunden aus der Rübe gerattert haben. Wenn man gerade nicht die nötige Sekundärliteratur für eine Abrechnung mit Kant im Rucksack hat, ist das okay.
Aktuelle Lebensmodelle, gleitende Sabbatjahre oder Work-Life-Balance, übersehen den Tenor der geltenden Gesellschaft. Während wir auch mit Fieber im Urlaub für den Abteilungsleiter noch ans Telefon kriechen, weil der Daseinsdruck unseren Zwang zur Selbstausbeutung triggert, bölken die Gewerkschaften und ähnliche Laienschieltruppen von der Galerie, Flexibilität und Freiheit als Fanal für eine gesellschaftliche Freiheit zu feiern. Als gäbe es jenseits der Stechuhr ein Leben: natürlich drücken wir den Nachwuchs, kaum dass er stehen kann, in den Fremdsprachenkurs, lassen ihn Ballett und Schießen lernen, Rhetorik auf liberale Art, was man halt so braucht, um sich auf einen Burnout standesgemäß vorzubereiten.
Manchmal neidet die vermeintliche Elite den anderen, die dumm sind und keine Arbeit haben, das Glück. Sie schlafen aus, hätten theoretisch Zeit für umfangreiche soziologische Abhandlungen und bekommen scheint’s wenig Druck dafür, sie haben einen anstrengungslosen Zeitwohlstand wie nur die adligen Schmarotzer, die man eigentlich an der Laterne entsorgt glaubte. Was in der Mittelschicht als Entgrenzung der Arbeit antrainiert wurde, geht hier als Ablehnung unbedingter Selbstzerstörung durch. Der globalisierte Bescheuerte hat nur einen Sinn vor Augen, die Aufrechterhaltung seiner Funktionsfähigkeit, und die erlaubt ihm keine halbe Minute mehr in der Warteschleife.
Hatte der Hominide schon vorher wenig Sinn für das Unendliche, hier hat er auch noch die Einsicht in die Endlichkeit verklappt. Der kollateral verödete Sinn für die Sinnlosigkeit ist weg. Immerhin kommt die Erkenntnis pünktlich und raubt uns nicht noch ein halbes Leben, in dem wir von der Muße geküsst ausreichend materielle Bedürfnisse hätten befriedigen können, weil uns für die Entwicklung idealistischer Neigungen die nötige Distanz fehlte. Endlich genug Frust-Ration, jeden Tag ein Stückchen, jede Minute, in der wir das in Werbung und regelmäßig anschwappenden Predigten schöne Dasein nicht mehr genießen können, weil eine Digitaluhr dazwischen ist. Und so sehen wir die Tage verstreichen, die Rolltreppen sind defekt, der verspätete Zug hat Verspätung, die Vernunft hat Augenringe vom ständig bösen Erwachen. Schlafen können wir, wenn wir tot sind.
Satzspiegel