„Drei Minuten!“ Schwatzke fuchtelte erregt mit den Händen vor seinem Gesicht herum. „Haben Sie eine Vorstellung davon, was das bedeutet?“ Der Mann war offensichtlich in seinem Element. Und ich war einfach nur zu früh gekommen.
„Unsere Redaktion sorgt für die richtige Wirkung“, erklärte Schwatzke. „Sie meinen, Sie bauschen alles auf.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, das sehen Sie falsch. Ich würde eher sagen, wir machen die Nachrichtenlage interessanter für eine Zielgruppe, die uns als Endverbraucher besonders am Herzen liegt.“ „Also die, die nicht nachdenken, sondern nach Lautstärke sortieren?“ Befriedigt lehnte er sich in seinen Drehsessel zurück. „Das ist vollkommen übertrieben, mein Lieber. Vollkommen übertrieben. Also absolut richtig.“
Schwatzke kramte eine Liste aus dem Stapel auf seinem Schreibtisch. „Da haben wir’s ja. Sehen Sie mal, 34 Prozent Diebstahl von Rumänen – das lässt sich doch brillant verwerten.“ Er zeichnete mit der offenen Hand bereits die Schlagzeile in die Luft. „Was halten Sie davon? ‚Klauen uns die Zigeuner bald die Ferienhäuser?‘“ „Gar nichts.“ Meine Antwort irritierte ihn. „Worauf beziehen Sie das jetzt?“ „Sie hatten mich gefragt, was ich davon halte, ich habe Ihnen wahrheitsgemäß geantwortet.“ Er sah mich angestrengt an; wahrscheinlich wusste er längst nicht mehr, was Wahrheit ist. „Zunächst mal geht es in dieser Statistik um Kriminalität in Rumänien.“ Schwatzke nickte. „Schlimm. Die Quote der Straftaten liegt konstant bei 100 Prozent, das ist doch nicht hinnehmbar.“ „Es handelt sich um Diebstähle, die alle Personen, möglicherweise nur Rumänen, an anderen begehen, die sich in Rumänien aufhalten.“ „Interessante Formulierung“, grübelte er. „Sie wollen damit andeuten, es könnte sich um Ausländerkriminalität handeln, weil andere Leute dazu gezielt nach Rumänien einreisen, um kriminelle Handlungen auszuführen? Interessant!“ Ich überhörte es. „Sie lesen hier eine Statistik, die sich ausschließlich um Rumänien dreht. Von den Straftaten, die in diesem Land begangen werden, sind etwa ein Drittel…“ „34 Prozent“, protestierte Schwatze, „das sind sehr viel mehr als ein Drittel! Bleiben Sie gefälligst bei der Wahrheit, wir wollen doch keine Falschmeldungen in die Welt setzen!“
Ein Assistent hatte Papiere reingereicht, war schnell wieder verschwunden und hatte uns mit der Meldung alleine gelassen. „Wie gesagt“, sagte Schwatze, wie er es ja schon gesagt hatte. „Diese 34 Prozent sind…“ „Egal“, fiel ich ihm ins Wort, „ob es hundert, tausend oder hunderttausend Verbrechen sind, 34 Prozent bleiben 34 Prozent.“ „Sie sind mir zu spitzfindig“, moserte Schwatzke. „Wenn man Ihnen das Fahrrad hundert oder tausendmal klauen würde, das würden Sie merken, mein Lieber!“ Er warf fast seine Kaffeetasse um, machte einen Fleck auf die Statistik, aber das schien ihn überhaupt nicht zu stören. „34 Prozent sind Diebstähle, der Rest teilt sich auf die…“ „Das ist mir völlig egal“, schrie Schwatzke plötzlich, „Tatsache ist doch: es handelt sich bei diesen Ausländern um…“ Schwatzke hätte sich fast verschluckt, so hickste er nur und sprach normal weiter. „Also alle diese Rumänen sind ja auch Ausländer, zumindest vom Inland aus gesehen, wobei wir als Inland natürlich nicht unbedingt diese Ausländer, die aus dem Ausland – egal, es sind böse, gefährliche Ausländer, die Sachen tun, die in unserem Inland gar keine Relevanz haben! Was im Ausland stattfindet, das ist…“ „Wenn zwei von drei Rumänen Bratkartoffeln essen“, gab ich ungerührt zurück, „dann ist das für Deutschland bereits eine Gefahr?“ Schwatzke wedelte hektisch Linien in die deutsche Luft. „Wie finden Sie denn ‚Vorsicht!‘“, kreischte er, „‚Der balkanische Kindergeldkassierer will an Dein politisch korrektes Sintischnitzel!‘ Na, wie finden wir denn das, Herr Gutmensch!?“
Ein Paket Papiertaschentücher später hatte er sich beruhigt. Schwatzke blättere seine Papiere durch, als sei nichts geschehen. „Natürlich muss man hier und da ein bisschen leserorientiert mit den Fakten umgehen, auch dann, wenn es keine sind. Fakten, nicht Leser.“ „Sie setzen damit die Moral der gesamten Presse aufs Spiel“, warf ich ein. Er lächelte tatsächlich. „Ach. Moral.“
„Ihre Redaktion ist nur damit beschäftigt“, befand ich, „Zusammenhänge zu verfälschen und einen Eindruck zu erwecken, der mit der Wirklichkeit nicht mehr viel zu schaffen hat.“ Schwatzke nickte, mehr nicht. „So ähnlich steht das in meinem Vertrag. Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, weil ich immer nur das lese, was ich lesen will. Aber genau deshalb wurde ich ja auch engagiert.“
Ich hatte es nicht übers Herz gebracht, einen so idealistischen Redakteur vom Fleck weg zu kündigen. Vor der Tür herrschte geschwätziges Treiben, keiner nahm niemanden zur Kenntnis. Der Chefredakteur stürmte auf mich zu, einen Stapel Papiere in der Faust schwenkend. „Passen Sie auf“, brüllte er mich an. „Passen Sie auf, es hat wieder einen Skandal gegeben mit Asylbetrügern. Alle rechtmäßig in Deutschland!“ Er schlug mir die Papiere in den Bauch. „Sie wissen, was Sie zu tun haben, Schwatzke?“
Satzspiegel