Die totale Erinnerung

5 09 2018

„Ich kann mich so nicht konzentrieren!“ An guten Tagen verlegte Anne die Autoschlüssel, an sehr guten auch gleich das Diktiergerät. Meist fand sich eins im Kühlschrank wieder – die Autoschlüssel hatten sich trotz des elektronischen Krimskrams, mit dem man seinerzeit wohl auch zum Mond hätte fliegen können, erheblich besser gehalten – und das andere irgendwo anders, denn die Kanzlei war recht groß. Und da waren nicht einmal die Schubladen eingerechnet.

Luzie litt stumm. Seit dem letzten Abend zog ihr Backenzahn eine Spur von Schmerzen bis ins linke Ohr, aber sie hatte es nicht geschafft, um ärztliche Hilfe zu bitten. Sie hätte das Telefon ans linke Ohr halten müssen, und das ging gerade nicht. Vielleicht würde sie bis zur Mittagspause durchhalten, aber das wusste bis jetzt noch keiner. „Wo sind denn die Mietverträge“, stöhnte Anne. „Wenn gleich Doktor Hutmacher kommt, will er alles unterschriftsreif auf dem Tisch haben.“ „Ich weiß es doch“, wimmerte Luzie Freese. Die sonst vorlaute Bürovorsteherin, die mit dem Kürzel luziefr zeichnete, hatte ernsthafte Qual. Wer weiß, wie lange sich das noch hingezogen hätte.

Plötzlich aber flog die Tür auf. Keiner hatte ihn kommen hören, es war eigentlich auch gar nicht möglich, die Türe von außen zu öffnen, ohne dass Luzie auf den Summer gedrückt hätte. Möglich, dass sie es getan hatte und sich nicht mehr daran erinnern konnte, aber dafür gab es keinen Beweis. Doktor Hutmacher, der große Impressario, stand mit Hut und Mantel im Vorraum. „Ihnen geht’s ja nicht so gold“, bemerkte er knapp. Luzie nickte. Was hätte sie auch tun sollen.

„Lassen Sie mich Ihnen helfen.“ Er legte den Mantel über einen Stuhl und ließ die Fingerknöchel knacken. „Ich kann Ihnen nichts versprechen, und es ist auch schon ein bisschen her, seitdem ich das zum letzten Mal gemacht habe, aber wir könnten es wenigstens mal versuchen.“ Als guter Theatermann hatte er natürlich ein Stück Zwirnsfaden in der Jackentasche; er zog einen Manschettenknopf aus dem Hemdsärmel, knotete ihn am Faden fest und hielt ihn Luzie vors Gesicht. Anne blickte skeptisch auf die Installation. „Hypnose“, murrte sie. „Ganz billiger Trick, oder haben Sie in der anderen Tasche auch noch Zuckerkügelchen.“ Hutmacher ließ sich nicht beirren. Mit monotoner Stimme begann er die Prozedur. Der Manschettenknopf pendelte langsam hin und her, hin und her. „Der Kopf wird frei“, murmelte er. „Sie sehen nur auf die Bewegung und vergessen, woran Sie gerade denken.“ Hin und her, hin und her. „Wenn ich mit den Fingern schnipse, wachen Sie auf und können sich an nichts mehr erinnern.“ Er stoppte das Pendel und schnipste mit den Fingern. Anne zuckte zusammen. „Die Akte Grützner“, sagte sie. „Ich weiß jetzt wieder, wo die Akte Grützner abgeblieben ist.“ Sie ging schnurstracks in die kleine Kammer neben der Küche, griff ins obere Regalbrett, wo neben dem Werkzeugkasten das Ersatzradio stand, eine Schachtel mit inzwischen bröselnden Gummiringen und eine Dose Klarlack, und zog die Akte hervor. „Als ich neulich den Klarlack gesucht habe für das Tischchen, muss ich die Akte beim Umräumen dort deponiert haben.“

Luzie fühlte vorsichtig mit der Zunge nach der Haltbarkeit ihres Zahns. Leider hatte die Hypnose den Schmerz nur wenig lindern können. „Aber die kleine Blumenvase, die sonst immer im Regal stand, die hast Du nicht mit nach Hause genommen, die steht in der Küche.“ Mit einem Satz war sie am Schrank, öffnete die mittlere Tür und rückte einen Stapel Kuchenteller beiseite, hinter denen sich besagtes Gefäß anfand. „Ich muss sie jeden Tag gesehen haben, sie ist mir nie bewusst gewesen.“ „Irgendwas muss schief gelaufen sein“, wunderte sich Doktor Hutmacher. „Sonst funktioniert das immer.“ „Lassen sie mal“, nuschelte Luzie. „Mit etwas Glück findet sie noch das Bernsteinzimmer.“ „Aber wenn das anhält?“ Er war doch ein bisschen besorgt. Ich tröstete ihn. „So neu ist das alles nicht, wir kennen uns schon ein bisschen länger und sie hält mir immer noch Dinge vor, die ich vor zehn Jahren gesagt habe.“

Eine Viertelstunde später war der Aktenschrank so gut wie vollständig, die Kanzlei hatte wieder einen Bleistiftanspitzer, und die Akkus, die Luzie für das Telefon gekauft hatte, fanden sich auch wie von selbst in der Besteckschublade wieder. „Die Kuchenrezepte sind übrigens im Order mit den Abrechnungen für Mai, der im Verzeichnis mit den Strafakten und Husenkirchens Hochzeitsfotos liegt.“ Hutmacher war schwer verwirrt. „Ich sollte vielleicht noch mal…“ „Die Fahrkarte“, platzte es aus Anne heraus, „die Fahrkarte ist nicht weg, sie befindet sich im Innenfutter Ihrer Jacke. Die linke Tasche hat einen kleinen Schlitz, durch den ist sie durchgerutscht. Sie sind also eigentlich gar nicht schwarzgefahren.“ „Langsam wird es unheimlich“, stammelte Hutmacher. „Lassen Sie“, wandte ich ein. „Sie hat durchaus Talent, hier entwickelt sich gerade ein zweiter Sherlock Holmes.“ Hastig schnipste er mit den Fingern. „Aufwachen!“

Luzie war einigermaßen schmerzfrei. „So lange sollten wir jetzt aber nicht mehr warten.“ Alle nickten, Luzie inbegriffen. „Gut“, beschloss Anne, „schnell die Unterschriften, dann sperren wir den Laden bis heute Nachmittag zu und ich bringe sie schnell in die Stadt.“ Doktor Hutmacher montierte seinen Manschettenknopf, Anne durchwühlte hektisch ihre Handtasche. „Wenn ich nur meinen Autoschlüssel finden würde.“