„Ein Bonbon in der Stunde reicht aus.“ Herr Breschke wickelte die Süßigkeit aus und faltete das Papier sorgfältig zusammen. Dann wandte er sich wieder seinen Briefmarken zu. „Drei bis vier Seiten schaffe ich noch“, erklärte er. „Dann setze ich mich vielleicht ein Stündchen aufs Sofa.“
Pfefferminzbonbons, so hatte es in einem Artikel der Apothekenzeitschrift geheißen, seien ein probates Mittel gegen Müdigkeit. „Das mag auch durchaus stimmen“, gab ich zu. „Allerdings bezog sich diese Anhandlung auf den Verzehr von Bonbons beim Autofahren, und Sie sortieren gerade Briefmarken.“ „Ich sortiere nicht“, belehrte mich der pensionierte Finanzbeamte. „Das sind die Sammlungen von Staatsanwalt Husenkirchens seligem Großonkel Fritz und diejenige, die Doktor Klengel mir mitgebracht hat.“ „Und wo ist da der Unterschied?“ Er deutete auf das Heftchen, aus dem er die Marken entnahm. „Ersttagsbriefe.“ Bisher hatte sich Horst Breschke nicht nennenswert mit dem Sammeln von Postwertzeichen beschäftigt, und die Zusammenführung dieser beiden Konvolute war eine überschaubare Aufgabe für einige Wochen entspannter Arbeit am Küchentisch – doch der alte Mann wäre nicht er selbst gewesen, hätte er nicht gerade dies zum Anlass genommen, eine neue Theorie praktisch zu erproben. „Briefmarken zu sortieren erfordert hohe Konzentration, genauso wie Auto fahren.“ Er fächelte sich mit einem Heftchen Luft zu. „Und da ein Pfefferminzbonbon für eine Stunde Wachheit sorgt, kann ich dies ja sehr gut nutzen, um diese Aufgabe zu erledigen.“ Und damit stand er auf, lief an die Küchenspüle und wusch sich die Hände unter kaltem Wasser. „Das bringt den Kreislauf wieder in Schwung. Und es ist fast so gut wie Trampolin springen.“ „Das leuchtet ein“, bekannte ich. „Während einer langen Autofahrt gleichzeitig Trampolin zu springen dürfte nicht gut zu bewerkstelligen sein, allerdings dürfte auch das Händewaschen ein kleines Problem darstellen.“
Er war in der Tat wild entschlossen, dem Schlaf zu trotzen, und das aus philatelistischen Motiven. Neben Bonbons und Frischluft hatte sich auch das Tragen frischer Socken in manchen Fällen als Mittel gegen den einsetzenden Schlummer bewährt, zumindest sagte dies der Artikel, in dessen unmittelbarer Nähe sich ein wissenschaftliches Rezept für Vielfruchtmarmelade nebst einer Anleitung zum Waschen von Schurwolle befand. Horst Breschke guckte aus glasigen Augen auf den Küchenwecker, der in einer kleinen Viertelstunde klingeln sollte, um dann ein bereits ordentlich auf Kante gelegtes Paar Socken anzuziehen. „Das macht mindestens drei Stunden Schlaf wett“, gab er an. „Wenn ich alle zwei Stunden die Socken wechsle, bin ich also immer eine Stunde im Plus, das macht bei acht Paar am Tag immerhin acht Stunden.“ „Ich glaube“, sinniert ich, „es liegt an der Tatsache, dass man alle drei Stunden die Socken aus- und wieder anzieht. Dabei könnte ich auch nicht schlafen.“
Man merkte dem Hausherrn seine Erschöpfung an; träge guckte er auf die Marken und senkte das Haupt über dem Katalog, als sähe er durch die bunt bebilderten Erläuterungen einfach hindurch. „Es sind auch noch genug Bonbons in der Schublade, wenn Sie mögen – sie passen nur nicht so recht zu Kaffee, das habe ich heute Vormittag schon probiert.“ Da piepte der Wecker. Breschke drehte sich umständlich auf dem Küchenstuhl und nahm, die Socken von der Anrichte. „Sehen Sie“, murmelte er mühsam, „das sorgt gleich wieder für Wachheit.“ „Ich kann das gut nachvollziehen“, sagte ich. „Mir geht es genau so. Also immer dann, wenn mein Wecker klingelt.“ Hörte er mir überhaupt noch zu? Er hatte die Augen geschlossen und sank wie in Zeitlupe vornüber. Noch einen kleinen Augenblick, dann würde er von Stuhl kippen, aber so weit kam es nicht. Breschke schreckte hoch und riss dabei die Augen weit auf. „Bismarck“, rief er. „Ach nein, es ist ja schon nach zwei, da muss ich mit dem Hund nicht mehr raus.“ „Das wäre auch ein gutes Mittel gewesen“, gab ich zu bedenken, „Sie gehen mit Bismarck vor die Tür und bekommen ein bisschen frische Luft.“ „Zu viel“, protestierte Breschke. „Zu viel frische Luft macht auch wieder müde, und ich kann ja nicht gleichzeitig mit dem Hund spazieren gehen und die Briefmarken sortieren.“ Er hob den Zeigefinger. „Sie müssen schon genau nachdenken, sonst ist die Sache sinnlos.“
Immerhin saß er nun wieder fest auf dem Stuhl und blickte in Richtung Ersttagsbriefe. „Ich könnte gleichzeitig das Fenster alle Viertelstunde kurz öffnen, das wäre auch recht effektiv.“ „Oder gleich alle zehn Minuten“, rechnete ich vor. „Dann hätten Sie sechsmal fünf Minuten, also eine halbe Stunde, macht sechs Stunden am Tag.“ Sein Kopf sank wieder unkontrolliert auf die Brust. „Aber Sie denken ja doch mit“, nuschelte er. „Das ist ja… die Socken, die anderen…“ Er deutete auf den Küchenschrank. „Oben liegen noch zwei Paar.“ „Dann werde ich die eben mal holen“, beschloss ich, „ein bisschen Bewegung kann auch mir nicht schaden, um munter zu bleiben.“
Als ich wieder ins Erdgeschoss zurückkam, lag Breschke mit der Stirn in den Marken. Ein sonores Schnarchen hatte mich bereits im Flur darauf vorbereitet. Das sollte ihm nicht schaden, dachte ich, schließlich sind ein paar Stunden Schlaf ein anerkanntes Mittel gegen einsetzende Müdigkeit. Ich nahm die Decke von der Wohnzimmercouch und legte sie ihm um die Schultern, während Breschkle inzwischen zu einem gleichmäßigen Sägen übergegangen war. Während des Schlummerns, so hieß es, sollte man nicht zu stark auskühlen. Irgendwo hatte ich das mal gelesen, ich wusste nur nicht mehr, wo. Vermutlich in einer Apothekenzeitschrift.
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