Flaschenkinder

31 07 2019

„Nehmen Sie auch noch eine Tasse“, nötigte er mich. „Ich setze gleich neuen Tee auf.“ Breschke spülte die Kanne um und stellte den Flötenkessel auf den Gasherd. „Man soll bei dieser Temperatur lieber vorsichtig sein.“

Die Gartenarbeit hatten den Hausherrn ein wenig erschöpft, also hatte er sich ein frisches Hemd angezogen und sah auch ansonsten landfein aus. „Die Zeitungen bringe ich am Wochenende weg“, überlegte er, „und wenn Sie noch kurz in den Baumarkt wollen, ich fahre auf dem Rückweg sowieso über die Trelleborgstraße.“ Er faltete ein Anzeigenblättchen, füllte das Teeei und hängt es in die Kanne. „Kleinen Augenblick noch.“ Ich tupfte mir den Schweiß von der Stirn. Es war im Haus wirklich ungemütlich. Wie stickig musste es erst im Wagen werden. „Sie können ja die Ärmel auf der Fahrt hochkrempeln“, riet mir Herr Breschke. „Es sieht uns ja keiner.“

Damit hatte er allerdings recht. „Ich werde Ihnen mal etwas Linderung verschaffen“, beruhigte er mich. „Sie werden sehen, es wirkt sofort.“ Und er öffnete den Kühlschrank, um eine Flasche aus der Tür zu ziehen. Ich riss die Augen auf. „Bei dieser Hitze!?“ „Ach was“, lachte der pensionierte Finanzbeamte. „Kosten Sie nur.“ Er entkorkte die grüne Flasche, deren Etikett eindeutig auf einen ordentlichen Burgunder hindeutete, und goss mir ein. „Leitungswasser“, kostete ich, „nichts als Leitungswasser.“ Er nickte. „Den Tipp habe ich aus der Briefmarkenzeitschrift: nichts kühlt so gut wie Weinflaschen, und umweltfreundlich ist es auch noch, weil man kein Plastik braucht.“ In der Tat war das Wasser angenehm kühl. Horst Breschke füllte sich ebenfalls ein Glas, denn der Tee brauchte doch noch ein Weilchen. „Wir müssen langsam los“, drängte ich. „Gemach“, lächelte der Alte. „Ich werde uns für den Weg noch zwei von denen ins Auto mitnehmen. Sie werden sehen, es wird viel angenehmer.“

Trotz allem war die Fahrt nicht entspannt; der Feierabendverkehr hatte bereits eingesetzt, als wir in die Uhlandstraße einbogen, an ein schnelles Vorwärtskommen war nicht zu denken. „Wenn wir nur rechtzeitig sind“, knurrte Breschke und presste die Hände ins Lenkrad. „Ich will nicht morgen noch mal in die Stadt fahren, um den Sommeranzug abzuholen.“ „Das wird nicht nötig sein“, bemerkte ich. „Morgen ist die Reinigung nämlich gar nicht geöffnet.“ Er schnappte nach Luft. „Ich verliere langsam die Geduld!“ Und er griff neben den Sitz, wo eine der Flaschen sich befand. „Doch nicht während der Fahrt“, rügte ich, „ich jedenfalls habe keine Lust darauf, dass Sie mich unter Wasser setzen.“ „Ich verdurste“, murrte Breschke. „In Bezug auf die Verkehrssicherheit sollten Sie mir durchaus die Gelegenheit geben, mich zu… –“

Mit einem Ruck stand der Wagen, im letzten Augenblick hatte Herr Breschke die rote Ampel entdeckt und war aufs Bremspedal gestiegen. „Dann steht einer kleinen Erfrischung nichts mehr im Wege“, frohlockte er. „Ich würde es nicht tun“, sagte ich sehr ruhig, aber auf mich hörte er nicht, setzte die Flasche an und nahm einen tiefen Zug. „Wenn Sie bitte mal pusten?“ Der Alte zuckte zusammen. Mit grimmiger Miene blickte der Polizist durch das geöffnete Fenster. „Hören Sie“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen, „es handelt sich um ein Missverständnis.“ „Natürlich“, gab der Schutzmann gelangweilt zurück. „Sie kommen viel zu spät zu Ihrer Weinprobe und wollen auf dem Weg schon mal das Versäumte nachholen.“ „Ich verbitte mir das“, zischte Breschke. „Sie wissen“, erklärte der Beamte zu mir gewandt, „dass vor allem die enthemmende und aggressionsfördernde Wirkung des Alkohols im Verkehr entsetzliche Folgen haben kann?“ „Probieren Sie wenigstens einmal“, riet ich ihm. Bevor er antworten konnte, hatte ich Breschke die Flasche entwunden und sie dem Polizisten unter die Nase gehalten. „Ich trinke nicht“, sagte er knapp. „Zumindest nicht im Dienst.“ Ich neigte den Hals ein bisschen, dass das Wasser auf seine Schuhe tropfte. Er lief rot an. „Das ist grober Unfug“, brüllte er, „ich werde Sie beide verhaften!“ „Festnehmen“, korrigierte ich, „oder habe ich da etwas an Ihrer Uniform übersehen?“

Verärgert stapfte der Polizist weg, wir nutzten den psychologischen Moment, denn es war gerade Grün. Breschke fuhr ums Eck, bog in die Kaiser-Wilhelm-Allee und kam zitternd vor der Reinigung zum Stehen. „Gerade noch rechtzeitig“, stellte ich fest. Doch ihm ging es gar nicht gut. Er hielt sich am Wagen fest, während ich meine Hemdsärmel herunterkrempelte. „Das ist alles zu viel für mich“, wimmerte er, „das ist heute alles zu viel!“ In der Mitte verkrümmt watschelte er auf die Reinigung zu, sichtbar um Haltung bemüht, während ich ihm die Türe aufhielt. Die junge Dame hinter dem Tresen begrüßte uns freundlich und erkundigte sich nach unseren Wünschen. Stöhnend hielt mir Horst Breschke den beigen Coupon hin, während er unverständliche Laute ausstieß. Die Verkäuferin begriff sofort. „Da hinten links“, erklärte sie, „die Tür ist offen.“ Noch immer gekrümmt stolperte der alte Herr in die hinteren Gemächer, während ich den frisch gereinigten Anzug entgegennahm.

Erleichtert erschien Breschke, schweißnass, aber mit der Miene milder Ergebenheit. „Sie sehen aber auch mitgenommen aus“, sagte die Dame, sichtlich erschrocken, und sie griff zu einem Becher, den sie unter den Wasserspender hielt. „Nehmen Sie erst mal einen kräftigen Schluck, das wird Ihnen gut tun – bei diesem Wetter.“





Die Neigung der Materie

30 07 2019

„… keinen wissenschaftlichen Beweis dafür geben könne. Die Alternative für Deutschland habe sich auf ihrem Reichsparteitag dafür entschieden, die Schwerkraft als eine linksversiffte…“

„… zu differenzierten Diskussionen auffordere. Kretschmer sei schon in seiner Jugend gegenüber dem Physikunterricht gegenüber äußerst skeptisch eingestellt gewesen, was nicht notwendigerweise heiße, dass er die Ergebnisse der Wissenschaft komplett ablehne, obwohl es auf der anderen Seite auch…“

„… kein speziell ostdeutsches Phänomen sei. Patzelt wisse aus seiner Laufbahn, dass sich besonders Intellektuelle aus Sachsen und Thüringen gegen wissenschaftlich nicht haltbare Vorstellungen wie Astrologie, Demokratie oder…“

„… es keinen Beweis für die Schwerkraft gebe, der nicht mit den Mitteln jüdisch-amerikanischer Fake News in die Welt gesetzt worden sei. Meuthen habe dies nicht antisemitisch gemeint, wolle aber darauf hinweisen, dass man das doch wohl sagen dürfen können müsse, ohne gleich als…“

„… in den Schulen eine Deutsche Physik gelehrt werden müsse, die ohne die Vorstellungen einer internationalistischen Lügenkampagne auskommen müsse. Höcke werde nach einer tausendjährigen Leidenszeit der nationalen Größe für die Auferstehung der männlichen Deutschheit in der Tiefe seines…“

„… dass negroide Ballastethnien, deren IQ im Jahr um mindestens achttausend Prozent sinke, die von sozialistischen Sozialpädagogen verbreitete Lehre von der Schwerkraft als Lockmittel benutzt hätten, um Europa durch die Zuwanderung rassefremder Parasiten zu schädigen. Sarrazin sehe sich nicht als Rassisten, aber…“

„… die Relativitätstheorie zunächst nur eine theoretische Überlegung gewesen sei, die nicht auf die praktische Umsetzung formuliert worden wäre. Gauland sehe die Erkenntnisse Einsteins als Vogelschiss in der Wissenschaft und werde die deutsche Identität nicht dem…“

„… aufs Schärfste widerspreche. Tillschneider sehe die Neigung der Materie, sich mit dem Boden der reichsdeutschen Muttererde zu vereinigen, im Gegensatz zur zionistischen Hetzpropaganda, die jede Feindschaft zum arischen…“

„… dass die Gravitation zunächst sich als ein astrophysikalisches Phänomen zeige, dessen Wirkung auf das Sonnensystem, geschweige denn die Erde, noch gar nicht hinreichend bewiesen sei. Storch habe in eigenen Untersuchungen eine…“

„… könne aber eine auf den Punkt fixierte Schwerkraft gar nicht wirken. Die Rotation der Erdscheibe sei zwar noch nicht erwiesen, Meuthen sei jedoch davon überzeugt, dass die Fliehkraft an den Rändern viel größer als auf dem…“

„… habe auch die stalinistische UdSSR fest an die Existenz der Schwerkraft geglaubt. Weidel werde keinen deutschen Staat akzeptieren, der sich mit dem wissenschaftlichen Grundlagen eines linksfaschistischen…“

„… könne die Anerkennung der Schwerkraft in drei Schritten durchaus denkbar sein. Scholz sehe in der grundsätzlichen Überlegung kein Hindernis, um die Koalition wieder für eine erfolgreiche…“

„… als geistigen Sondermüll bezeichnet habe. Die Grünen seien nicht davon zu überzeugen, dass Kramp-Karrenbauer die Gravitationslüge als Thema des Koalitionsvertrages zu einem erfolgreichen…“

„… aber wirklich nur in ganz kleinen Schritten vollzogen werden dürfe. Altmaier könne sich ein Wirtschaftswachstum bei langsamer Anerkennung der Schwerkraft bis 2055 durchaus vorstellen, solange dies nicht gleichzeitig Bedingung für einen Koalitionsvertrag mit der…“

„… nur bei geöffneten Fenster bei Zugluft in Süd-Süd-Nord-Richtung auftrete. Kachelmann habe keinen Beweis für seinen Annahme, sehe aber alle Kritiker als dumme Arschlöcher, denen er in die…“

„… halte Meuthen die friedliche Koexistenz der Union mit den nationalen Widerstandskräften nun endgültig für gescheitert. Der Blaubraune habe den Altparteien mangelnde Bodenhaftung vorgeworfen, was sie in der Diskussion um Schwerkraft als linksfaschistisches.…“

„… die Gravitation nur erfunden worden sei, um den Alliierten die Zerstörung des Volkes mit Hilfe nach unten fallender Bomben zu ermöglichen. Steinbach sehe darin einen Beweis für die jüdische Kriegsschuld, da Einstein 1939 bereits nicht mehr die Staatsbürgerschaft der…“

„… ein gravitationstheoretisches Theorem nur außerhalb der Erde untersucht werden könne. Storch wolle dies nicht ausführen, da ihre Fachkenntnisse viel zu weit fortgeschritten seien, um durchschnittliche Professoren mit den…“

„… sich die internationale Verschwörung mit einer Gravitationskonstante bis in die Schulbücher durchgefressen habe. Lindner habe die sofortige Abschaffung des Physikunterrichts gefordert, um im Gegenzug Hauptfächer wie Religion oder Marktwirtschaft in den erzieherischen…“





Unveränderliche Kennzeichen

29 07 2019

„Dritter Stock links, richtig? Wir wollen ja im Falle eines Falles auch korrekt informiert sein, und da ist so ein Detail manchmal ganz hilfreich. Seien Sie froh, dass wir an den Bürgern ein so großes Interesse haben.

Und wenn Sie bei Walther & Söhne arbeiten, dann immer wochenweise die Früh- und die Tagschicht, richtig? Ich muss es nur wissen, wir möchten eben im Vorwege sehr genau informiert sein, falls etwas passiert. Natürlich wollen wir auf gar keinen Fall, dass etwas passiert – aber dazu ist es eben unsere Aufgabe, dass wir vorher schon so viel wie möglich über Sie wissen. Da lassen sich dann auch Zusammenhänge besser erkennen, und man hat einen besseren Überblick über die Akten. Eine Behörde, die sich umfassend für die Sicherheit ihrer Bürger einsetzt, ist doch auch beruhigend, oder? Also ich finde das sehr beruhigend, dass wir so eine Behörde sind.

Aber wie gesagt, Sie haben alle zwei Wochen die Früh- und dann die Tagschicht. Ab halb neun fährt ja von Ihrer Straße aus der erste Bus in Richtung Innenstadt, wie kommen Sie denn dann in der Frühschicht hin? Die Maiblumenstraße durch und dann ab Maximilianplatz mit der Siebzehn in Richtung Bahnhof? Auch im Winter? auch im Sommer? Interessant, und da gehen Sie bestimmt immer morgens noch zum Bäcker und holen sich etwas zum Frühstück, richtig? Nein, das war jetzt bloß so eine Vermutung, die hätte überhaupt nicht stimmen müssen. Aber wo Sie das jetzt schon einmal so sagen, da kann man es doch auch gleich aktenkundig machen, oder? Schauen Sie, es ist doch kein Straftatbestand, wenn Sie am Morgen bei der Bäckerei belegte Brötchen holen und eine Zeitung. Das gehört halt zu Ihrem Leben dazu, so als eine Art unveränderliches Kennzeichen. Wir alle haben unveränderliche Kennzeichen, das weiß schließlich jeder.

Waren Sie mal Mitglied in einer Systempartei? oder haben Sie vielleicht in der jüngeren Vergangenheit mal eine gewählt? Ich frage das nur aus Routine, wir haben das in unserem Formular, und ich würde gerne einen vollständigen Datensatz haben. Selbstverständlich haben wir immer noch das Wahlgeheimnis, Sie müssen also gar nichts sagen, aber solange Sie keinen vollständigen Datensatz abliefern, kann es Ihnen natürlich passieren, dass wir Sie mehrmals nachbefragen, bis Sie uns alle notwendigen Auskünfte geliefert haben, und da wäre es doch klüger, wenn Sie uns gleich alles sagen, was wir brauchen, nicht wahr?

Sie haben ja auch noch eine Schwester, ist das richtig? Sie müssen uns die Anschrift nicht geben, wir finden das schon ohne Sie raus. Es gab nur in den letzten Monaten keinen besonders engen Kontakt mehr zwischen Ihnen, war da irgendwas vorgefallen? Also das müssen Sie und nun wirklich nicht sagen, das wollen wir tatsächlich nur rein vorsorglich wissen. Es kann ja wirklich mal etwas vorfallen, und dann ist es immer gut, wenn man es vorher schon hat kommen sehen, nicht wahr?

Es gibt eben so bestimmte Dinge, die sind nicht von vornherein klar. Bei Ihnen sehe ich jetzt keine besonderen Merkmale, Ihre Daten werden also aller Voraussicht nach einfach nur gespeichert, und dann werden wir auch keine Verwendung mehr dafür haben – falls nicht ein besonderer Fall eintritt, den wir heute natürlich noch nicht genau definieren können, deshalb brauchen wir ja eben so viele Daten von so vielen Bürgern. Weil man ja nie weiß, wann etwas interessant werden könnte. Oder auch gefährlich, für wen auch immer oder in welchem Zusammenhang jetzt genau. Aber davon verstehen wir auch nichts, und da ist es doch besser, wir lassen die Experten ihre Arbeit machen.

Das mit den Listen ist auch stark aufgebauscht worden in den Medien. Deshalb haben wir uns als Reaktion auf diese Hysterie auch überlegt, dass wir einfach ein generelles Verzeichnis mit den wichtigsten Eigenschaften unserer Bürger anlegen, damit die, die jetzt schon mit allerhand Einzelheiten auf so einer Liste stehen, nicht mehr das Gefühl haben müssen, sie würden als einzige auf so einer Liste stehen. Ich sehe das durchaus als praktizierten Minderheitenschutz. Und jetzt müssen wir eben so viele Informationen wie möglich sammeln, damit wir ein so großes Projekt auch ordentlich im Sinne der Bürger zu Ende bringen.

Die Daten sind bei uns auch in guten Händen, da können Sie absolut sicher sein. Die liest nur die Polizei, vielleicht wird irgendwo mal etwas an die Geheimdienste weitergegeben, wenn es die Ermittlungen im Inland erleichtern sollte, aber sonst ist da nichts vorgesehen. Die Bundeswehr könnte noch ein Interesse haben, aber ich kann mir auch nicht vorstellen, für welche Art von Dienstgebrauch das sein sollte. Aber da fragen Sie mal bei der Bundeswehr nach, die erklären Ihnen das bestimmt.

Dann bräuchten wir eigentlich nur noch einen Kontakt, wen wir im Falle eines Falles verständigen können, und wir müssten auch ein paar Auskünfte haben über diese Person. Man soll ja nichts dem Zufall überlassen.“





Mundi historia brevis

28 07 2019

Am Anfang war die Menschheit nur auf Erden
und mit ihr alle Dinge, alle Spuren,
von denen andre draußen nie erfuhren,
bis eines Tages sie’s erfahren werden.

Sie kamen spät und nahmen den Planeten
als Eigentum, auf dem ein Herrscher thront.
Als dies erreicht war, griffen sie zum Mond.
Die Welt war unterdes schon längst zertreten.

Einst wird kein Mensch mehr da sein zu erschauern.
Ein Fußabdruck wird alles überdauern.





In fünf Zeilen um die Welt. Limericks (CDLIII)

27 07 2019

Es nähte sich Max in Klein Lissen
aus Stoffresten gerne mal Kissen
für seine Matratze,
jedoch seine Katze
hat sie dann behende zerrissen.

Wenn Leroy in Nieuw-Rotterdam
am Morgen im Pool Bahnen schwamm,
so hat er seit Jahren
kaum Stress mit den Haaren.
Der Kahlkopf braucht nie einen Kamm.

Es ließ sich Marie in Klein Stengeln
entnerven von zahlreichen Bengeln.
Besonders beim Wandern
mit Söhnen und andern
ertrug sie nur mäßig ihr Quengeln.

Es repariert Brahim in Fraita
die Dachrinne dort auf der Leiter.
Schon kommt er ins Wackeln,
will nicht lange fackeln
und hämmert gemächlich dann weiter.

Hat Ernest Besuch in Klein Schwein,
fällt ihm zum Bewirten nichts ein.
So brät er beständig –
das kann er auswendig –
nach Hausrezept ein Hühnerbein.

Anselmo besuchte in Dande
den Botschafter, wo ihm am Rande
für zahlreiche Taten,
die auch wohlgeraten,
ein Orden verliehn wird am Bande.

Soff Adam erneut in Klein Peterwitz,
so sprach er: „Wer weiß, wo ich später sitz –
der Kneipen sind viele,
worauf ich meist ziele,
dass ich morgen beim Sanitäter schwitz.“





Gernulf Olzheimer kommentiert (CDLXXIV): Kulturelle Aneignung

26 07 2019
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Irgendwann wird die Menschheit damit angefangen haben, sich das Gesicht zu bemalen, und keiner weiß, warum. Ob aus reinem Jux, in kriegerischer, kultischer oder kosmetischer Absicht, keiner weiß, wer es wo zuerst getan hat. Als wahrscheinlich gilt nur, dass nicht einer sich das Zeug von der Höhlenwand auf Wangen und Stirn geschmiert hat, sondern viele, mutmaßlich in allen Teilen der damals unbekannten Welt zugleich. Noch gab es weder Völker mit ausgeprägtem Abgrenzungsbedürfnis noch deren Anführer, der die Streifen auf dem eigenen Gesicht als Zeichen religiöser Inbrunst und das Geschmodder in der fremden Visage als degeneriertes Imitat oder fehlgeleitete Mimesis abgetan hätte. Erst recht hätte sich kein Häuptling herabgelassen, die bunten Balken auf dem Auge als kulturelle Identität der eigenen Ethnie zu preisen und alle anderen Völker als politisch inkorrekt zu bezeichnen, wenn sie dergleichen kostengünstig nachschwiemeln. Diese geistige Minderleistung wird der jüngeren Jetztzeit vorbehalten sein, vertotschlagwortet mit dem Verdikt der kulturellen Aneignung.

Sich bunte Punkte auf die Stirn zu malen als soziosemiotische Handlung ist einer von vielen Wegen, sich gegen alle unguten Geister zu schützen und zugleich den Personenstand öffentlich zu zeigen. In Westeuropa geschieht dies mit der obligatorischen Rockschleife auf der korrekten Seite, mit Art und Anzahl von Hutbommeln, Ring am rechten Finger und ähnlichem Gedöns, das nur lesen kann, wer lesen will. Beiden Konzepten ist gemein, dass sie im Laufe der Jahrhunderte zum ästhetischen Ritual erstarrt und in kommerzielles Handwerk abgeglitten sind. Doch während in Indien auch unverheiratete Frauen sich das dritte Auge schminken oder einen Abziehklebepunkt als Tika aufs Chakra tackern, ruft der industriell gefertigte Feminismus zwischen Boston und Bochum zum Kastrationsweltkrieg auf, wenn sich modisch experimentierwütige PersonInnen ein Bindi an die Birne pappen. Das ist mindestens strukturelle Gewalt – der übliche Nasenschmuck natürlich nicht, der hat sich in der westlichen Welt als Zeichen der Emanzipation durchgesetzt und ist als Wirtschaftsfaktor auch nicht mehr wegzudenken – und sollte in Erinnerung an den schlimmen Kolonialismus, den der weiße Mann der nicht weißen Frau und ihren TöchterInnen angetan hat, auch tunlichst unterlassen werden. Auf den Schreck erst mal ein Mango Lassi.

Denn das darf der Identitätsschützer, er hat sich das Rezept sicher auf dem letzten Ferienflug selbst mitgebracht, zusammen mit hübschen Kaschmir- und Seidenklamotten aus traditioneller Kinderarbeit nebst den ortsüblichen Designs, an denen man die Herkunft der Textilien erkennen kann, wenn man sich länger im Land aufgehalten hat, Jahrzehnte bis Jahrhunderte. Da zeigt sich sein volles Talent zum differenzierten Denken, er entscheidet selbst, wo er den edlen Wilden schützt, bevor er sich mit dem Rest ein schönes Leben macht. Auf den Gedanken, eine Kultur selbst entscheiden zu lassen, was sie als und in welchem Kontext als schützenswert erachtet, käme das nie. Sie sind wie die zänkische große Schwester, die immer im falschen Moment nicht die Fresse halten kann.

Wahrscheinlich triggert die Idee des geistigen Eigentums die Vorstellung, man könne Gedanken auf Flaschen ziehen und sammeln, bevorraten oder entwenden, wie man ja auch Daten klaut oder Visionen mopst. Eine seltsame Dialektik von rein materialistischer Dinglichkeit, die die Idee als Wille und Vorstellung zum schützenswerten Gut macht, und krudem Idealismus erzeugt jenen Hirnschmerz, der sich als kritisches Bewusstsein auftakelt, und das heißt zu allererst: unkritisch gegenüber den eigenen Positionen, weil man im Recht ist und alle anderen sowieso Arschlöcher sind.

Entlang der frühesten Handelsstraßen haben sich kulturelle Errungenschaften jeglicher Art ausgebreitet, ohne die der Teutone heute nicht beim Bier auf dem Sofa säße, da es beides nicht gäbe ohne nahöstlichen Lifestyle. So definiert sich jeder fleißig die eigenen Grenzen schön, und die ach so awarenessbekifften Antirassisten betreiben fröhlich das Geschäft rechtsidentitärer Drecksäcke. Denn wer den eigenen Bionachbarn verbieten will, sich die Hände bunt zu bemalen – Tätowierungen sind okay, das ist nämlich so voll gegen das Patriarchat, dass es gar nicht Mainstream sein kann – sperrt nicht nur seine eigene Kultur in einem wirren Konstrukt aseptischer Reinheit ein, sondern auch andere Kulturen als letztlich volksfremde Elemente aus. Krieg heißt ja auch immer irgendwie Frieden.

Ab jetzt ignorieren wir fröhlich, ob die deutsche Kartoffel im tiefen Fett überhaupt als nationale Speise durchgeht oder nur für belgische Bolivianer statthaft ist, da Pommes völkische Leibspeise sind. Mit, China hin, Currywurst her, Ketchup. Und Bollywood. Nichts geht doch über Bollywood.





Rasen für den Frieden

25 07 2019

„Man könnte ja auch gemeinnützige Projekte mit dem Geld unterstützen.“ „Der Parteinachwuchs könnte den einen oder anderen Euro schon gebrauchen.“ „Das war jetzt aber eher für die Allgemeineinheit gedacht.“ „Dann geht das Geld halt allgemein an den Freistaat Bayern.“ „Finde ich nur konsequent, der gehört ja eh der CSU.“

„Sie haben das vollkommen falsch verstanden, es ging doch bei der Maut um eine allgemeine Abgabe, die nicht mehr nur von Ausländern gezahlt werden soll.“ „Das finde ich nun sehr bedenklich.“ „Weil die Deutschen jetzt auch blechen müssen, richtig?“ „Das heißt, dass Deutsche keine Ausländer sind.“ „Das wird ja in den meisten anderen Zusammenhängen von den Christsozialen als durchaus sehr positiv angesehen.“ „Das heißt aber, dass wir jetzt alle Maut zahlen müssen.“ „Mussten wir doch vorher auch schon.“ „Sie meinen, hätten wir müssen.“ „Bei dieser Partei ist Erfolg sowieso meistens eine Sache des korrekten Konjunktivs.“ „Aber wir hätten es dann ja wiederbekommen.“ „Schwebt das Scheuer nicht vor?“ „Doch, aber er weiß nicht, wofür er das dann verwenden soll.“ „Sie meinen, außer für sich selbst.“ „Sie wollen doch nicht behaupten, er würde mit so einem Geschäft keinen einzigen seiner ehemaligen Parteifreunde versorgen wollen?“ „Würde ich nie tun!“

„Wie gesagt, als CO2-Maut könnte man sich das ja noch vorstellen.“ „Mir fehlt da jetzt der konkrete Zusammenhang.“ „Auf der Autobahn wird nun mal viel von dem Zeug ausgestoßen, da kann man dann auch die Folgen mit Umweltschutzmaßnahmen in den Griff bekommen.“ „Und warum wird dann nicht der Kraftstoff höher besteuert?“ „Sagen Sie es ihm?“ „Weil das ein Eingriff in die Autonomie der Bürger ist, die sich in ihrem eigenen Land auf ihren eigenen Autobahnen, die sie von ihren eigenen Steuern bezahlt haben, so fortbewegen dürfen müssen, dass ihre persönliche Autonomie zu keiner Zeit Einschränkungen erleidet.“ „Es ist ja schon schlimm genug, dass hier irgendwelche Stalinisten mit Tempolimits ankommen!“ „Das würde aber auch der Umwelt nützen, die uns ja schließlich auch allen gehört.“ „Was ist das denn für ein beklopptes Argument!?“ „Wenn Sie so für Steuern sind, von denen wir Autobahnen bauen, wieso sind Sie denn dann gegen Steuern, die Autobahnen erhalten?“ „Sie sind auch so linke Zecke, stimmt’s?“

„Was ich noch nicht ganz verstehe, wieso wird dann ausgerechnet mit Autofahren der Klimaschutz finanziert?“ „Als Anreizargument.“ „Klingt logisch, wenn man nicht immer mit dem Auto durch die Gegend fährt, pustet mal halt weniger Kohlendioxid in die Luft.“ „Und zahlt viel weniger Steuern.“ „Und muss die ja eigentlich auch gar nicht zahlen, weil es der Umwelt ja messbar besser geht.“ „Das klingt mir zu logisch.“ „Machen Sie sich nichts vor. Was aus einem CSU-geführten Ministerium stammt, enthält keine nachweisbaren Spuren mehr von Logik.“ „Das hatte ich auch schon befürchtet.“

„Es könnte ja durchaus interessante Ansätze jenseits des üblichen Umweltkrams geben, aber mir fällt gerade nichts ein.“ „Um noch mal auf das Thema der Parteienfinanzierung zu kommen, ich hätte da eine tolle Idee.“ „Behalten Sie die bitte für sich?“ „Erlauben Sie mal!“ „So eine Ausländermaut kann doc hauch ganz praktisch sein.“ „Wie soll ich mir das jetzt vorstellen?“ „Naja, wenn eine CO2-Maut gegen CO2 ist, wogegen ist dann wohl eine Ausländermaut?“ „Immer diese negativen Ideen, man muss doch nicht immer gegen etwas sein?“ „Rasen für den Frieden?“ „Fände ich jetzt nicht direkt sinnvoll.“ „Heißt das schon, die Idee ist CSU-tauglich?“

„Jetzt müssten wir aber noch mal klären, was das Ziel dieser Umweltmaut eigentlich ist.“ „Also wenn ich das richtig verstehe, ist die dann gegen die Umwelt?“ „Das wäre dann doch zu einfach.“ „Ich würde sagen, man kann damit die Folgen des Autoverkehrs auffangen.“ „Und wenn man sehr viel fährt?“ „Dann ist das natürlich großartig für die ganze Umwelt, keine Frage.“ „Könnte man nicht gleichzeitig auf Elektromobilität umschwenken und dann die Mauteinnahmen trotzdem für den Schutz des Klimas verwenden?“ „Da befinden wir uns dann möglicherweise im Bereich der illegalen Querfinanzierung.“ „Ich dachte, mit solchen Sachen kennen sich Leute wie Scheuer und Dobrindt auf professionellem Niveau aus?“ „Also das kann man so auch nicht sagen.“ „Wie denn?“ „Naja, anders ausgedrückt halt.“ „Aber logisch ist das doch auch alles nicht.“ „Man könnte ja die Steuern gleich mal erhöhen, um das auszuprobieren.“ „Dann trifft es aber alle.“ „Also auch die kleinen Leute?“ „Das wäre für ein CSU-geführten Ministerium kein Hinderungsgrund, die schrecken eher zurück, wenn es ausschließlich die großen Leute betrifft.“ „Aha.“ „Aber bei einer Steuererhöhung haben wir die höchsten Einnahmen.“ „Wenn man das denn so will, ja.“ „Wollen wir das denn?“ „Ich finde das doch ganz logisch.“ „Logisch jetzt im normalen Sinne oder CSU-geeignet?“ „Wenn man die Steuer erhöht, um dann wieder eine Besserstellung der deutschen Autofahrer zu erreichen, dann ist das doch gar nicht so schlecht?“ „Man muss sie dann nur stark genug anheben, dann kann man auch richtig viel zurückzahlen.“ „Genial!“ „Da würde ich doch sagen, die Steuer wird sofort derart erhöht, dass wir sie durch die sofortige Rückzahlung quasi abschaffen.“ „Großartig!“ „Super!“ „Und da soll noch einer sagen, Scheuer verstehe nichts von Verkehrspolitik.“





Schweinesystem

24 07 2019

„… vorerst auf Schweinefleisch verzichten werde. Die Kindertagesstätte habe sich unmittelbar danach mit Gewaltandrohungen durch…“

„… als unnatürliche Ernährungsgewohnheit bezeichnet habe, die gerade den Kindern schwere seelische Schädigungen zufügen könne, wenn sie nicht umgehend wieder behoben werde. Kramp-Karrenbauer fordere die Wiedereinführung des täglichen Schnitzels in der…“

„… lediglich der Mehrheit der Eltern entsprochen habe, die übrigens auch den Verzicht auf Brokkoli und Rosenkohl angeregt hätten. Dies sei jedoch von BILD nicht in der…“

„… Kindern vorschreiben wolle, was sie zu essen hätten. Für Meuthen sei dies ein typisches Anzeichen von Sozialismus, da es in der DDR auch nicht jeden Tag Selbstverständlichkeiten wie Schweinefilet, Parmaschinken oder…“

„… es den Eltern jederzeit freistünde, ihr Kind in eine andere Tagesstätte zu schicken, wenn ihnen der Speiseplan missfalle. Da dies wie zu erwarten nicht der Fall sei, könne BILD auch nicht von einer Indoktrination der…“

„… allein in den vergangenen Jahren mindestens fünfzehntausend wissenschaftliche Untersuchungen publiziert worden seien, in denen klar nachgewiesen werde, dass der Verzicht auf Schweinefleisch den IQ von Kindern in weniger als fünfzig Generationen auf Null senke. Sarrazin habe sie zwar nicht gelesen, wisse aber aus eigener Erfahrung, wie sich frühkindliche Einflüsse auf die intellektuellen Fähigkeiten eines…“

„… sei Faschismus in Reinform, da es für einen richtigen Deutschen gar nicht möglich sei, Spargel ohne Schweinefleisch zu essen. Lindner werde sich sofort mit dem…“

„… dass gerade Schweinefleisch stark mit Antibiotika und Keimen belastet sei. Für die Ausbildung eines stabilen Immunsystems, das auch die Teilnahme an einem Angriffskrieg überstehe, sei dies das optimale Training. Meuthen werde gegen die Wehrkraftzersetzung des…“

„… sehe die FDP bald eine linksradikale Kindererziehung, die echt deutschen Gerichten wie Spaghetti mit Tomatensauce oder Döner keinen Raum mehr im…“

„… es sich um eine private Kita handele, deren Betrieb die Öffentlichkeit nicht zu interessieren habe. Kretschmer sehe hier eine gefährliche Nähe zur DDR-Erziehung, da hier die Kindererziehung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden habe, um den Nachwuchs mit ideologischem…“

„… die gute Frikadelle zur deutschen Leitkultur gehöre wie das Anzünden von Flüchtlingsheimen. Die Christdemokraten würden bei der Integration nur das verlangen, was allen richtigen Bürgern in Deutschland zu einer selbstverständlichen…“

„… sei der Holocaust von den Juden erfunden worden, um den Deutschen das Schweinefleisch zu verbieten. Höcke betrachte sich zwar nicht als Antisemiten, aber…“

„… gemeinhin als Schweinesystem bezeichnet werde. Man müsse, so Kretschmer, jeden Verzicht auf Schwein als stalinistisch infizierten Terror werten, der mit der ganzen Härte des deutschen…“

„… von landfremden Elementen gesprochen habe, die sich nicht mehr als zur Volksgemeinschaft gehörig fühlen dürften, da sie die Werte der deutschen Identität verraten hätten. Die SPD sehe dies zwar vollkommen anders, würde aber im Falle einer Koalition mit der sächsischen Union eine entsprechende Erklärung aus strategischen…“

„… sei Hitler ebenfalls Vegetarier gewesen, weshalb man ihn als linken Verbrecher und die NSDAP als sozialistische Terrororganisation sehen müsse. Die AfD, die den Führer nun in historischer Würdigung als nicht ausschließlich böse einschätze, sei damit endgültig vom Makel befreit, eine neofaschistische Partei zu…“

„… es sich eindeutig nicht um ein Verbot von Schweinefleisch gehandelt habe. Kretschmer habe jedoch aus reiner Fürsorge diesen Ausdruck benutzt, um das Volk vor der sozialistischen Verbotspartei zu warnen, die möglicherweise bald mehr Stimmen als die…“

„… eine wissenschaftliche Arbeit gelesen habe, die beweise, dass der Islam von Lobbyisten nur gegründet worden sei, um die Tierproduktion in Deutschland zu zerstören und Millionen von Arbeitsplätzen zu vernichten. Sarrazin könne sich zwar nicht mehr an den Autor erinnern, dies sei jedoch nicht so…“

„… der Kinderhort Srulik in Berlin von mehreren besorgten Bürgern mit Schweineblut beschmutzt worden sei. Meuthen habe nach der Festnahme der Aktivisten beklagt, inzwischen seien deutsche Juden so weit geraten, dass sie sich freiwillig muslimischen Regeln unterwerfen würden, um sich in vorauseilendem Gehorsam bei der Umvolkung nicht zu…“

„… einen galoppierenden Werteverlust in der Kindererziehung sehe. Wer Schweinefleisch in der Kita verbiete, so Dobrindt, wolle demnächst auch das Bier abschaffen und lege so die Axt an die Wurzel unseres abendländischen…“





Für eine Handvoll Euros

23 07 2019

„Es ist ja ein moralisches Dilemma, da gebe ich Ihnen durchaus recht. Diese vielen, vielen jungen und motivierten Menschen, die da aus den ärmsten Verhältnissen kommen, die suchen ein besseres Leben und müssen diese gefährliche Überfahrt auf sich nehmen, und wer das Mittelmeer kennt, der weiß schon, dass das eine ungeheure Gefahr ist. Wir können uns ja nicht einfach so verweigern, aber das ist gerade die Gefahr: was fangen wir da an?

Sie müssen mir jetzt nicht mit irgendwelchen moralischen Vorträgen kommen, Fluchtursachen bekämpfen und so, denn das machen wir ja gerade. Es sind so viele Menschen da irgendwo in Afrika, die mit ein paar Dollar am Tag gerettet werden, ach was: denen man mit diesem bisschen Geld Hilfe zur Selbsthilfe geben könnte, damit sie sich eine gute neue Existenz aufbauen. Das müssen wir aus historischer Sicht schon tun, das ist ganz klar, und wir wollen uns davor auch gar nicht drücken. Und wir wollen auch keine rechtskonservativen, ach was: dieses ganze nationalbesoffene Gefasel, die müssen schon in Afrika Asylanträge stellen, damit wir die ablehnen können, am besten schon in den Konzentrationslagern an der afrikanischen Küste, das lehnen wir entschieden ab. Das ist mit der deutschen Industrie nicht zu machen.

Mit der deutschen Rüstungsindustrie schon gar nicht. Wir sind moralisch absolut unbestechlich, das müssen Sie uns jetzt einfach mal glauben, und wenn Sie das überfordert, dann kann ich das nicht ändern. Diese vielen Menschen kommen zu uns nach Europa und speziell in die Bundesrepublik, und wir müssen ja dafür sorgen, dass wir das unterbinden. Indem wir Fluchtursachen bekämpfen, allem voran die Perspektivlosigkeit durch viel zu wenig Jobs in den Heimatländern. Da haben wir uns gesagt, also vielmehr: einer von uns, der hat so eine links eingestellte Tochter, und die rennt immer mit so einem Aufkleber auf dem Rucksack herum, wenn keiner zum Krieg geht, kommt der Krieg eben her. Ist auch durchaus kundenfreundlich irgendwie, finde ich zumindest, dass man den Afrikanerinnen und Afrikanern eine gut Perspektive eröffnet, denn das ist eine klare Botschaft: Beschäftigungsgarantie für alle, solange der Krieg hübsch weiterläuft.

Das muss man jetzt nicht lange diskutieren, das versteht so ein Afrikaner eh nicht. Die hocken da auf den Bodenschätzen und wundern sich, warum man bei denen gerne mal ein bisschen buddelt für Stabilisierung und Wachstum an der Börse. Deshalb haben wir den Krieg, das heißt die Rüstung, gleich zu denen ausgelagert. Alles vor der Haustür. In der Sahelzone ist ja genug Platz, gut, der Anfahrtsweg ist etwas sandig, aber wir kriegen die Rohstoffe per Luftfracht, und der Afrikaner muss sich nicht beschweren. Die wurden da geboren, dann kommen die mit der Landschaft auch irgendwie zurecht.

Überlegen Sie doch mal, was das für ein technologischer Fortschritt wäre! Also der Afrikaner ist nicht gerade für große Erfindungen bekannt, der kann ja gerade mal aus europäischem Müll neue Konsumgüter für seinen doch recht überschaubaren Bedarf erstellen. Das ist zwar betriebswirtschaftlich durchaus interessant, die DDR hat damals meines Wissens nach die letzten zwanzig Jahre lang auch nur überlebt, weil bei denen russische Mechaniker aus einem massiven Block Gusseisen, der trotz planwirtschaftlicher Sorgfalt gegossen wurde und dann in der Gegend herumstand, mit der Nagelfeile eine funktionsfähige Lokomotive herausgefräst haben. Das ist noch Qualität, das hat man denen auch lange genug beigebracht. Und genau da setzen wir jetzt an.

Dass wir unsere Rüstungsproduktion jetzt direkt in die Abnehmerländer verlagern, hat natürlich auch einen nicht zu unterschätzenden ökologischen Aspekt, jetzt müssen wir die Rohstoffe nicht immer um den halben Globus karren und dann die Endprodukte wieder zurückschicken. Das spart jede Menge Kohlendioxid. So gesehen können wir uns vor unseren Kritikern auch aus der jungen Generation sehr gut rechtfertigen, dass wir gesundes Wirtschaftswachstum und tatkräftigen Umweltschutz miteinander verbinden. Und dazu noch die Entwicklungskomponente – wir schaffen Arbeitsplätze, viele Arbeitsplätze für Menschen, die sonst die Region verlassen würden. Ich weiß, was Sie sagen wollen, das wäre eine großartige Idee für den Osten, aber die Subventionen reichen da nicht aus, um die Aktienkurse stabil auf Wachstum zu halten. Hier bekommen wir die Rohstoffe viel preiswerter, und die Arbeitskräfte sind natürlich unschlagbar billig. Was die hier für eine Handvoll Euros machen, unglaublich!

Selbstverständlich knüpfen sich auch ein paar geostrategische Überlegungen daran, so völlig uneigennützig kann man ja gar nicht sein. Stellen Sie sich mal vor, die Bundesrepublik ist der größte Arbeitgeber in Nordafrika, daraus ließen sich doch dann auch gewisse politische Ziele ableiten. Da könnte man doch dann, so als alter Wüstenfuchs, in die Stabilisierung der Region investieren, und zwar gleich durch den Einsatz der relevanten Produkte. Da kann sich die Bundeswehr dann mal ordentlich austoben, Platz genug haben die ja, der Russe hat nichts dagegen, der Ami bleibt sowieso in jedem Sandkasten stecken, und Deutschland hätte endlich wieder seinen wohlverdienten Platz an der Sonne. Ist das nicht eine bezaubernde Vorstellung?“





Kuscheljustiz

22 07 2019

„Geben Sie mir noch eine Minute.“ Siebels lutschte hektisch an seinem Hustenbonbon, während der Aufzug gerade herabgerauscht kam. „Wir nehmen einfach den nächsten.“ So spät war in der Redaktion sonst nichts mehr los, die Moderatoren prüften ihre Moderation, die Gäste saßen bereits in der Maske oder telefonierten an, wie weit sie sich verspäten würden. Der ganze Stab von Das wird man doch wohl noch sagen dürfen war in heller Aufruhr. Irgendjemand würde die Sendung retten müssen.

„Genau das erwarten sie von uns“, knurrte der Produzent. „Eine Woche lang gurkt dieser ganze Haufen unprofessioneller Vollidioten herum, nichts funktioniert, und wir dürfen dann die Kastanien aus dem Feuer holen.“ Der Aufzug war im zehnten Stock angekommen. Die Türen öffneten sich. Der Richtungsanzeiger für die Talkshow wies nach ganz rechts. „War ja zu erwarten“, sagte ich lakonisch. Siebels nickte. „So habe ich es auch in Erinnerung, aber ich möchte gerne wissen, warum sie uns jetzt noch herholen. Anscheinend stimmt etwas nicht mit den Gästen.“ Frau Doktor Hüserich war dann auch entsprechend sprachlos. „Furchtbar“, jammerte sie, „es ist wirklich furchtbar! Wir können die ganze Sendung gar nicht mehr machen! Es gibt da auf einmal so viele Bedenken, ich weiß gar nicht, wo di alle herkommen!“

Die Kärtchen an der Pinnwand zeigten sämtliche Teilnehmer der Sendung. „Hannelore Bahsmann“, las ich. „Rechtsanwältin, die sich mit den Fehlurteilen den Justiz beschäftigt.“ „Lesen Sie die ganze Karte“, empfahl Siebels. „Frau Bahsmann wurde für die Aussage gebucht, dass die ganze Kuscheljustiz den deutschen Rechtsstaat zerstöre.“ „Das ist doch unsinnig?“ Frau Doktor Hüserich nickte. „Ja, aber Sie dürfen nie vergessen: man darf den Zuschauern nie sagen, dass sie dumm sind, aber man darf es auch nie außer acht lassen.“ Siebels legte die Stirn in tiefe Falten. „Sie ordern eine Strafverteidigerin, deren erste Aufgabe es ist, ihre Mandanten vor einem zu harten Urteil des Gerichts zu schützen, und wollen von ihr hören, dass die Gerichte nicht hart genug urteilen.“ Die Doktorin betrachtete sehr eingehend ihre Schuhe.

„Dann hätten wir da einen Kommunalpolitiker, der irgendwas mit Ausländern erzählen soll.“ Siebels sah sich die Karte nicht einmal an. „Das ist schließlich die Aufgabe von Kommunalpolitikern.“ „Aber entschuldigen Sie mal“, begehrte ich auf, doch er winkte nur müde ab. „Ich meine das in Bezug auf Talkshows. Oder haben Sie dort von denen jemals etwas in anderem Zusammenhang gehört?“ Ich schwieg betroffen.

„Unser Problem ist jetzt zunächst dieser junge Mann“, erklärte Frau Doktor Hüserich. „Er hatte in der letzten Woche einen schweren Autounfall, aus dem er wie durch ein Wunder gänzlich unverletzt herauskam, und jetzt hat er sich geschworen, nur noch im Sinne des christlichen Menschenbildes seiner Partei zu handeln.“ Siebels sah sich um; es gab keinen Kaffeeautomaten mehr, also musste er noch ein Hustenbonbon aus der Jackentasche holen. „Er sollte bei uns erklären, dass die Kriminalität in seinem Landkreis ansteigen würde, und jetzt ist er nicht mehr dazu bereit.“ „Sie haben die Statistik natürlich parat“, quetschte der legendäre TV-Macher an seiner Süßigkeit vorbei. „Es gab diesen spektakulären Fall von Steuerbetrug im letzten Jahr, oder täusche ich mich da?“ Bevor die Redakteurin etwas antworten konnte, fuhr Siebels ihr über den Mund. „Wie häufig sind denn Geflüchtete aus dem Sudan im Aufsichtsrat eines Finanzdienstleisters?“

Einzig der nächste Zettel versprach ein wenig Hoffnung. „Der Mörder kommt frei“, tönte die aufgeklebte Schlagzeile. „Ich erinnere mich.“ Siebels wusste, worauf ich hinauswollte. „Nach heutigen Maßstäben ein Soziopath, der ein paar Jugendliche provoziert und beleidigt hat. Leider hat er einen von ihnen den Mann ums Leben gebracht, nach dem Urteil des Jugendrichters ein Totschlag. Die Strafe ist abgesessen. Nur dieser Knalldepp hat es noch nicht begriffen.“ „Ich kann doch nicht den Chefredakteur eines…“ „Lassen Sie das meine Sorge sein“, sagte Siebels. „Sie laden ihn einfach ein und überlassen uns dafür die redaktionelle Verarbeitung.“

Der Aufzug war besetzt. Es gab hier keinen Automatenkaffee mehr. Dennoch war Siebels erstaunlich entspannt, als wir die Kabine bestiegen und wieder ins Foyer hinabfuhren. „Sie hat nicht ganz begriffen, dass ihr redaktionelles Modell mit der Wirklichkeit bricht und dass nur eins davon für den Zuschauer wirklich relevant ist. Nämlich die Wirklichkeit.“ Er zog ein neues Hustenbonbon hervor. „Was hatten Sie denn da noch so eilig in der Redaktion zu tun?“ Siebels steckte sich das kleine knisternde Stück Einwickelpapier zurück in die Tasche. „Ich habe etwas an der Anmoderation gearbeitet. Diese Sprechpuppen im Fernsehen sind ja ohne ihre Pappkärtchen gar nichts.“ Es klingelte, die Tür ging auf. Applaus brandete auf vor dem Titelgedudel. In der Eingangshalle liefen schon die Monitore und zeigten live das Abendprogramm. „Guten Abend“, knödelte der Moderator. „Das werden wir ja sehen“, murmelte Siebels. Die Titelmelodie verebbte. „Wozu noch Wahrheit, wenn wir sowieso alles besser wissen? Können wir den Arschlöchern, die für uns im Publikum sitzen, die Wirklichkeit zumuten? Herzlich willkommen bei Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“ Siebels steckte die Hände in die Hosentaschen. „Und genau jetzt wissen Sie wohl, warum es Talkshow heißt.“